6847665-1976_30_04.jpg
Digital In Arbeit

Wartesaal der Zukunft

19451960198020002020

Mit der Hellseherei lassen sich noch allemal gute Geschäfte machen. Denn wer will schon nicht einen kurzen Blick hinter den Schleier tun, der die Zukunft umhüllt? Wer will schon nicht den Wartesaal der Zukunft betreten, sich dort umschauen, etwas von jenen Geheimnissen erfahren wollen, die der nächste Tag, das nächste Jahr, das Jahr 2000 bringen?

19451960198020002020

Mit der Hellseherei lassen sich noch allemal gute Geschäfte machen. Denn wer will schon nicht einen kurzen Blick hinter den Schleier tun, der die Zukunft umhüllt? Wer will schon nicht den Wartesaal der Zukunft betreten, sich dort umschauen, etwas von jenen Geheimnissen erfahren wollen, die der nächste Tag, das nächste Jahr, das Jahr 2000 bringen?

Werbung
Werbung
Werbung

Noch vor dem Öl-Embargo im Oktober 1973 gab das Bundesministe-rium für Finanzen an die Prognos-AG, ein Basler Unternehmen, das sich mit der Zukunftsdeutung von Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt, den Auftrag, das Österreich des Jahres 1985 in großen Linien zu skizzieren. Was dabei herauskam, ist eine mehrere hundert Seiten starke Untersuchung über die „Grundlagen für eine Strategie zur längerfristigen Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums in der Republik Österreich“.

Auf die Dezimalstelle genau sind in dieser Untersuchung die Wachstumsraten der österreichischen Wirtschaft, die Entwicklung des Arbeitskräfteangebots, die Verteilung der Erwerbstätigen auf Selbständige und Unselbständige, die Steuerlastquote, das Ausmaß der Freizeit, die Qualität des Wohnens, die Lage auf dem Gesundheitssektor beschrieben. Meist so exakt, daß die genannten Daten nicht bezwingen, sondern schon wieder zum Lächeln anregen. Denn versöhnlich stimmt Hellseherei immer dann, wenn beweisbar ist, daß sich die Hellseher da und dort geirrt haben. Da — aus welchen Gründen immer — der Auftraggeber dieser Studie, Finanzminister Androsch, einige Angalben daraus erst zwei Jahre nach ihrer Fertigstellung der Öffentlichkeit freigab, läßt sich schon heute feststellen, daß die Prognos-AG, die beauftragt war, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Österreichs bis in das Jahr 1985 auszuleuchten, sich in wesentlichen Details schon für den Zeitraum von nur zwei Jahren, also zwischen 1974 und 1976, geirrt hat.

Ganz allgemein hat die Prognos-AG herausgefunden, daß die österreichische Bevölkerung bis zum Jahre 1985 auf rund 7,5 Millionen Menschen zurückgehen wird, daß die Zahl der Haushalte sinken, die der Bewohner in Anstalten dagegen steigen wird; daß das Bruttonatio-nalprodukt j ahresdurchschnittlich um 4,8 Prozent real wachsen und die Preise ebenfalls jahresdurchschnittlich um 6,2 Prozent steigen werden. Stark steigen wird die Steuerlastquote, und zwar von rund 37 Prozent im Jahre 1975 auf rund 42 Prozent im Jahre 1985, ebenfalls stark steigen wird (oder soll?) der Anteil des Staates an der österreichischen Wirtschaft. Wie überhaupt diese Prognos-Studie unter der Devise formuliert worden zu sein scheint, wie man den Österreichern „mehr Staat“ und weniger individuelle Freiheit mit statistischen Zablen-spielereien (oft ist es auch tatsächlich nicht mehr) begreiflich macht. Insofern liefert diese Studie dem

Finanzminister und der Regierungspartei den Persilschein für mehr Sozialismus in Österreich. Denn sicher ist, daß die Gesamtheit der in der Prognos-Studie genannten Daten einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmen so füllen, wie er dem Auftraggeber bis zum Jahre 1985 als politische Zielvorstellung vorschwebt. Deshalb werden in dieser Studie steigende Staatsausgaben, steigende Budgetdefizite, steigende Inflationsraten als durchaus normale Entwicklungen angeboten. So heißt es unter anderem (und Finanz-minister Androsch wird sich dafür sicherlich bedankt haben): „Fortgesetzte Anklagen gegen die jeweilige

Regierung, sie sei schuld an der Inflation, wie sie auch in Österreich seit vielen Jahren von der jeweiligen Opposition vorgebracht werden, erscheinen nicht nur als sinnlos, sondern auf die Dauer auch als verantwortungslos.“

Laut Prognos-Studie wird die Arbeitszeit bis zum Jahr 1985 auf wöchentlich nur 35 Stunden sinken. Ein knappes Viertel der Freizeit werden die Österreicher vor dem Fernsehschirm verbringen. Das Fernsehen wird demnach seine Rolle als Stütze der Freizeitgesellschaft in den nächsten zehn Jahren weiter ausbauen.

Doch nur 36 Minuten werden sich die Österreicher an Arbeitstagen, eine runde Stunde an Sonn- und Feiertagen und im Urlaub der Lektüre widmen. Trotz stark steigender Freizeit wird das Bildungsinteresse nur eine sehr untergeordnete Rolle im Leben des Durchschnittsösterreichers im Jahre 1985 spielen: 12 Minuten täglich sollen für die Bildung aufgewendet werden.

Dagegen sollen laut Prognos-Studie bis zum Jahre 1985 die Wohnungsprobleme in Österreich weitgehend gelöst sein. Der Anteil an Komfortwohnungen (mit Bad, WC und Wasser) wird fast 90 Prozent erreichen (1975 lag dieser Anteil bei rund 56 Prozent); nur noch ein Prozent aller bewohnten Wohnungen werden 1985 Substandardwohnun-gen sein. Theoretisch würde das bedeuten, daß jeder Haushalt im Jahre 1985 seine eigene Wohnung hätte; daß in jeder Wohnung pro Person ein Wohnraum zur Verfügung stünde und kein Haushalt in einer

Wohnung ohne Wasser und WC wohnte.

Zwischen 1974 und 1985 ergibt sich ein Neubedarf an Krankenhausbetten von 2900 Betten (davon 2300 in Akutkrankenhäusern) sowie ein kumulierter Ersatzbedarf an 46.800 Betten (davon 31.500 in Akutkrankenhäusern). Zwischen 1975 und 1985 wird der Bedarf an Krankenhauspersonal auf rund 37.300 steigen. Während der Bedarf an Ärzten nur um etwa 10 Prozent auf rund 6900 steigen wird, nimmt der Bedarf an Krankenhauspflegekräften und sonstigem Personal um fast ein Drittel auf 30.300 zu.

Stark steigen wird in Österreich

bis zum Jahre 1985 die sogenannte Krankenhaushäufigkeit. Dafür werden zahlreiche Gründe genannt, wie zum Beispiel: Die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung; eine Zunahme der Berufskrankheiten; die Entwicklung der Größenstruktur der Privathaushalte in Richtung . auf Einpersonenhaushalte (diese Personen ziehen infolge mangelnder Hauspflegemöglichkeiten bei der Wahl zwischen ambulanter und stationärer Behandlung einen Krankenhausauf enthalt vor); die Zunahme der Straßenverkehrsunfälle mit Personenschäden usw.

Sinken wird dagegen die durchschnittliche Verweildauer in den Krankenhäusern, und zwar von derzeit rund 15 Tagen auf 13,5 Tage im Jahre 1985.

Auf Grund der demographischen Entwicklung ist bei den allgemeinbildenden Pflichtschulen und bei den allgemeinbildenden höheren Schulen mit sinkenden Schülerzahlen zu rechnen. Schon 1980 wird laut Prognos-Studie die Schülerzahl um einiges hinter der von 1972 zurückbleiben. Höhere Steigerungen sind dagegen infolge stärkerer Jahrgänge und steigender Zielquoten bei den

übrigen weiterbildenden höheren Schulen zu erwarten. Allerdings dürfte sich die Zunahme zwischen 1980 und 1985 rapid verflachen. Bei den mittleren Anstalten der Lehrerund Erzieherbildung und bei den Lehranstalten für Frauen-, Sozial-und Fremdenverkehrsberufe wird 1980 die Schülerzahl weit über der von 1972 liegen, dann aber wieder leicht absinken. Bei den Pädagogischen Akademien und den Hochschulen wird infolge der demographischen Entwicklung auch zwischen 1980 und 1985 noch ein weiteres Ansteigen der Schülerzahlen zu erwarten sein. Das statistische Zahlenmaterial,

das die Prognos-AG für das Österreich des Jahres 1985 erforscht hat, füllt einen eigenen 200-Seiten-Band dieser Studie. Es ist, da in vielen Punkten schon überholt, weniger signifikant für den Wert dieser Studie, als die globalen Entwicklungstrends, die von der Schweizer „Denkfabrik“ gezeichnet wurden. Wahrscheinlich läßt es sich auch im Österreich des Jahres 1985 verhältnismäßig angenehm leben, soweit man unter „angenehmes Leben“ ein Dasein in relativem materiellen Wohlstand versteht. Wahrscheinlich werden wir uns bis zum Jahre 1985 in einem noch größeren Abhängigkeitsverhältnis vom Staat befinden; ein Gedanke, der nicht. unbedingt glücklich und zufrieden stimmen muß.

Es ist fraglich, ob das Österreich des Jahres 1985 auch tatsächlich jenes Österreich ist, das die Österreicher wollen. In seiner Gründlichkeit und Durchschaubarkeit scheint es nicht unbedingt das Traumland unserer Sehnsüchte zu sein. Aber noch immer gibt es mehr Unwägbarkeiten, Zufälle und ungeahnte Ereignisse, als sich alle Prognose-Weisheiten träumen lassen. Deshalb braucht nicht einzutreten, was der Präsident der österreichischen Gesellschaft für Zukunftsforschung, Staatssekretär Ernst Eugen Ve-selsky, Österreich und den Österreichern für das Jahr 1985 prophezeit: „Erschütternd und schockierend — das wird die Situation Österreichs im Jahre 1985 sein.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung