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Warum gerade Disco-Sound?

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Musik ist lebenswichtig. In welchen Situationen sie für junge Menschen überlebenswichtig wird, zeigt eine Studie über die Bedeutung von Popularmusik.

Harald Huber, Lehrbeauftragter an der Wiener Musikhochschule, Abteilung Musikpädagogik, und ein Studententeam fragten Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 9 und 23 Jahren, welche Musikstücke für sie in irgendeiner Form wichtig seien beziehungsweise waren. Es ging dabei weniger um eine Repräsentativbefragung als um Tiefeninterviews.

Hatten die Jugendlichen ein Musikstück spontan genannt, dann wurden sie gebeten, sich an Einzelheiten zu erinnern: Welche Situationen damit im Zusammenhang stünden, welche Gefühle sie dabei hätten und — vor allem — welchen Stellenwert das Stück im gesamten Lebenszusammenhang einnehme.

87 Prozent der Musikstücke zählten zur Popmusik, 13 Prozent zur Klassik. Der meistgenannte Interpret war Wolfgang Ambros, gefolgt von der Gruppe Survivor (Filmmusik aus Rocky I—IV). Der Anteil österreichischer Produktionen lag bei knapp 30 Prozent. 60 Prozent der Pop-Platten waren in der Hitparade gut placiert. Dennoch widerspricht Huber der Manipulationsthese, wonach Kinder und Jugendliche in einer totalen Medienwelt mit speziell auf sie zugeschnittener Kulturware so überfüttert würden, daß sie als manipulierbare Käuferschicht nur noch ein verzerrtes Wirklichkeitsbild hätten.

Die Studie zeigt, welche Rolle Musik als Teil jugendlicher Selbsthilfe und Selbstfindung spielt. Nach einer IFES-Untersu-chung aus dem Jahr 1977 ist Musikhören die jugendliche Freizeitaktivität schlechthin (96 Prozent). Ein sehr hoher Prozentsatz der Jungen besitzt eigene Radiogeräte, Plattenspieler und Kassettenrecorder. 30 Prozent der jungen Österreicher/innen spielen selbst ein Instrument. Etwa gleich viele gehen mehrmals im Monat in eine Discothek. Eher selten hört man allein Musik, zu 80 Prozent tut man es gemeinsam mit einer Bezugsperson oder -gruppe.

In der Reihenfolge der Häufigkeit wurden Huber genannt: durch einen Freund, eine Freundin, Geschwister; durch eigenen Mediengebrauch; im Freundeskreis; im Kino; bei einer Party; in der Disco; durch eine Liebesbeziehung; im Musikunterricht; bei einem Rockkonzert; im Rahmen von Fußball; durch Drogenerlebnisse; durch andere Szenarios etwa beim Bundesheer, als Mitwirkende bei Konzerten.

Die Wahrnehmung, durch die das Stück eine biographische Bedeutung bekommt, hängt oft mit einem Massenerlebnis zusammen. So denkt ein zwanzigjähriger Bürokaufmann zuallererst an die Bundeshymne — im Stadion: „Da merkt man a richtiges Zusammengehörigkeitsgefühl . ma kriegt a Ganslhaut und g'freit si dann scho' drauf.“ Die in dieser Kategorie genannten Stücke der Popmusik haben ebenfalls den Charakter von Hymnen.

Auch „Gruppenspaß“ kann ein Lied bedeutsam machen. In der aktuellen Situation vermittelt es eine aufbauende „Wir-sind-stark“-Uberzeugung und erhält im Alltag dieses positive Lebensgefühl. Empfindungen und Erinnerungen, die sich mit solchen Ereignissen verknüpfen, weisen in Richtung Romantik: Zelten, Lagerfeuermachen beim Jazzfestival.

Idole oder besungene Traumberufe können zum realen Vorbild werden. Lieder, die Liebesgeschichten oder gescheiterte Beziehungen zum Inhalt haben, können zur Identifikation dienen, ebenso andere Ereignisse, die eine bestimmte psychische Situation treffen.

Wesentlich ist die Funktion der Musik als „seelischer Anker“: mit ihr überwindet man Frustrationen und findet Halt. Dabei kann man sich vom Inhalt oder von der Stimme des Interpreten angesprochen fühlen, ohne selbst ein Erlebnis dieser Art gehabt zu haben. Allein der Klang kann beeindruckend wirken. In der Phase der Selbstfindung sind Selbstdarstellung und Abgrenzung—in Musikstücken ausgedrückt — und das Erfolgserlebnis, selbst Musik zu machen, sehr wichtig.

„Auffallend ist der Zusammenhang besonders geschätzter Stük-ke mit tiefliegenden Bereichen der Entwicklung des jugendlichen Selbst“, faßt Hüber zusammen, „Musikstücke treffen oft den Nagel auf den Kopf, wenn es um den Ausdruck von grundlegenden Stimmungen, um die Verarbeitung von Erfahrungen, um die Gewinnung von Perspektiven geht. Musik hilft, indem sie Identifikationsmuster anbietet und den Alltag wärmt.“

Huber hat die neuen Befragungsergebnisse der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte gegenübergestellt und die Beziehung zwischen Musik und Körper in Zusammenhang gebracht.

Die Jugendkulturen der Nachkriegszeit (Folk, Rock, Pop) brachten eine realistischere Sprache und Elemente afroamerikanischer Musik, die eine ganze Generation von den traditionellen bürgerlichen Normen entfernten. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Musik zum zentralen Teü der jugendlichen Gegenkultur. Halbstarke, Hippies und Studenten nutzten offensiv die ihnen nun zugestandenen Freiräume. Sozialkritik und Autoritätskonflikte schlugen bis in die Hitparaden durch. In der Disco-Kultur der späten siebziger Jahre wurde die Utopie einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung preisgegeben: Die Liedertexte spiegelten den Rückzug ins Privatleben, das „Zurück zu sich selbst“ wider.

Diese Entwicklung setzt sich in den achtziger Jahren fort. Huber: „Der einzelne will seine Nischen finden, in die das System nicht hineinreicht, sich soviel Spaß wie möglich verschaffen. Wer Zorn und Ärger, Träume und Wünsche, Sehnsüchte und Gelüste nicht unterdrückt, hat größere Chancen, sich zu behaupten.“ Interpreten wie Wolfgang Ambros, Rainhard Fendrich, Maria Bill, Stephanie Werger oder Peter Cornelius kommen dieser individuellen Suche nach Selbstverwirklichung entgegen.

„Der eigene Körper wird zur sinnstiftenden Insel, auf die man/ frau sich zurückziehen kann, wenn sonst nichts geht. Vielleicht ist Musik heute Sinnbild dieser Körper-Insel“, kommentiert der Autor der Studie.

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