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Warum mußte, was passiert ist, passieren?

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Anderthalb Jahre sind gerade der richtige Zeitabstand. Man sieht wie die Kinder der Freunde gewachsen sind, aber es sind noch dieselben Kinder. Der Teenager von damals geht noch barfuß und in Blue Jeans, und der Gymnasiast ist noch kein Doktorand. Und doch...

Wenn man im Begriffe ist, nach einer Abwesenheit von anderthalb Jahren wieder am Kennedy Airport zu landen, wäre es wahrhaftig zu viel verlangt und geradezu unnatürlich, wollte man sich keinerlei Vorstellungen von den zu erwartenden Veränderungen machen. Nun, das Klima — New York im Hochsommer — hat sich nicht geändert. Kennedy Airport ist noch immer... Nein, der Flugplatz ist noch größer und noch verwirrender als früher, aber das war ja zu erwarten. Die New Yorker Taxis, diese einmalige Institution, sind auch unverändert. Man ist wieder in Amerika.

Natürlich, wird einem, wie jedem Toruristen, der nie über New Jersey hinausgekommen ist, erklärt: „New York ist nicht Amerika.“ Nein, New York ist natürlich nicht Amerika, es ist New York. Aber seine acht Millionen Bürger machen immerhin vier Prozent der Bevölkerung Amerikas aus. Darüber hinaus leben ja viele New Yorker außerhalb der Stadt. Sie arbeiten in New York und wohnen in Long Island. Vielleicht arbeiten sie in New York und schlafen im Nachbar-Staat New Jersey oder in Connecticut. New York ist größer, als es scheint. Außerdem ist es das Herz eines städtischen Ballungszentrums, das sich über einen beträchtlichen Teil dei- Ostküste der Vereinigten Staaten erstreckt. New York ist nicht Amerika, aber Amerika ohne New York wäre undenkbar.^ i' ■ . . .! ; .

New York, um ein etwas weniger, hochdeutsches Wort zu verwenden, ist pleite. Die größte Stadt Amerikas ist in Zahlungsschwierigkeiten, und die führenden Banken betrachten die

Stadt als ein schlechtes Kreditrisiko. Irgendwie geht trotzdem alles weiter, mehr schlecht als recht, aber es geht weiter. Mitte Juli war der Müllabfuhrstreik zwar längst vorbei, aber die Plastik-Müllsäcke türmten sich noch auf den Gehsteigen. Die New Yorker sind teilweise abgeklärt, teilweise an Kummer gewöhnt. Ist es nicht dieser Streik, ist es ein anderer. Die Gewerkschaften sehen in den Finanznöten New Yorks nur eine faule Ausrede, wenn es um ihre „gerechten Forderungen“ geht. England, das warnende Beispiel, ist weit weg. Denn die Stadt New York allein ist ja an Einwohnern größer als ganz

Österreich. Und dann gehört es noch zu der Welt, die Amerika heißt. England ist tatsächlich weit weg; und Europa noch weiter.

Der Schein trügt. Fast überall in Manhattan sind neue Wolkenkratzer im Sau, Bureaugebäude und Wohnhäuser. Es gibt Apartments, deren Miete zwei- oder dreitausend Dollar monatlich kostet. Die Mieter sind vielfach Mitglieder der UN-Delegationen von Ländern der Dritten Welt. Und es gibt Luxusgesehäfte und teure Restaurants. Es gibt auch

ärmere Bezirke und Elendsviertel, aber dort geht man nicht hin. Nicht nur, weil Hartem, zum Beispiel, nicht besonders attraktiv ist, man ist dort als Außenseiter auch nicht sehr sicher. Man kann dort leicht eines über den Schädel kriegen, und wenn man zu sich kommt, ist die Brieftasche weg. Aber das kann einem auch in München passieren, oder sogar' in manchen Teilen Wiens. Es ist jedoch bemerkenswert, daß, als vor ein paar Jahren die New Yorker Polizei streikte, die Kriminalität, solange der Ausstand dauerte, sank!

Das überraschende an alldem isj, daß es nicht überraschend ist, daß

New York tatsächlich so unverändert geblieben ist. Die Stadt ist chronisch in finanziellen Schwierigkeiten; und wenn das Wort „wurschteln“ drüben bekannt wäre, hätten die New Yorker den Weifcneistertitel im Weiter-wurschteln den Wienern längst abgenommen.

Was tatsächlich überrascht, sind die Preise. Ob es sich um Lebensmittel oder Anzüge handelt, um Schuhe oder Benzin, Autos oder Schallplatten, das einzige was einen Besucher aus Europa davon abhält, aus seinem Aufenthalt einen einzigen, riesigen Einkaufsbummel zu machen, ist die auf 20 kg. Naürlich leidet auch Amerika unter der Inflation, so wie die ganze Welt. Aber die Inflationsrate liegt wesentlich unter der hiesigen. Die Statistiken scheinen in diesem Belang schlecht vergleichbar zu sein. Es ist» allgemein bekannt, daß der US-Dollar unterbewertet ist, daß seine tatsächliche Kaufkraft höher ist, als es dem internationalen Wechselkurs entspräche. Seltsamerweise sind aber auch Artikel, die aus Europa nach Amerika importiert werden, vielfach um ein Drittel bis zur Hälfte billiger als beispielsweise in Wien.

Trotzdem befindet sich die amerikanische Wirtschaft in einer Rezession — um nicht Depression zu sagen. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit geht um, und nach den Jahrzehnten des Wohlstandes ist der Schock um so ärger. Noch vor wenigen Jahren dozierten Professoren der Nationalökonomie von Kalifornien bis New York, daß eine Depression heute nicht mehr möglich sei. So sprach man vor dem großen Krach des Jahres 1929 von einem „neuen Plateau“. In fünf Jahren werden Studenten von New York bis Kalifornien lernen, warum das, was heute passiert, passieren mußte. Inzwischen hilft sich jeder so gut er kann, und es scheint nunmehr tatsächlich, als wäre der Tiefpunkt überschritten. Aber wenn dem so ist, dann liegt das an der robusten wirtschaftlichen Gesundheit Amerikas. Denn im Gegensatz ^zu der Nixon-Regierung, die etne ' verheerend schlechte Wirtschaftspolitik praktizierte, hat die gegenwärtige Ford-Administration scheinbar gar keine.

Ein Europäer würde zweifellos unter diesen Umständen zumindest lebhafte politische Debatten erwarten. Er wäre enttäuscht. Ein typischer New Yorker, zum Beispiel, ist viel unmittelbarer davon betroffen, was seine Stadtverwaltung beschließt, oder ob sein Bürgermeister Subventionen von der Regierung des Bundesstaates New York erhält. New York ist groß, und Washington, die Bundeshauptstadt, ist weit weg. Nur wenn Präsident Ford erklärt, die New Yorker wüßten nicht zu wirtschaften, nehmen sich einige von ihnen vor, ihm nächstes Jahr nicht ihre Stimme zu geben.

Man hat den Eindruck, daß der Durchschnittsbürger, falls es tatsächlich einen solchen gibt, in allererster Linie mit sich und seinen persönli-den Problemen beschäftigt ist. Das ist ein Eindruck, kein Ergebnis einer Meinungsumfrage. Das größte außenpolitische Problem, der Krieg in Vietnam, ist vorbei; liquidiert, wenn auch vielleicht nicht sehr glorreich. Politik — besonders nach Watergate und den CIA-Debatten — gilt als „dirty busmess“. Mit der Politik wird man sich nächstes Jahr wieder befassen, wenn man einen neuen Präsidenten zu wählen hat. Bis dahin kann man ja ohnehin nichts machen. Man muß sich gedulden, und tut es anscheinend nicht einmal ungern. Heißt das, daß sich der Amerikaner als Bürger geändert hat? Historisch gesehen, kaum. Es war immer seine Art, seinen Abgeordneten, seine Senatoren und seinen Präsidenten zu wählen und ihnen dann den „Job“ des Regierens zu überlassen. Im großen und ganzen ist er nicht schlecht dabei gefahren. Der Vietnam-Krieg und Watergate waren Ausnahmen und für den Durchschnittsbürger politisch ermüdend. Die jetzige Wirtschaftskrise gilt nicht als nationale Katastrophe, und man hofft eben, daß das Ärgste schon vorbei ist. Inzwischen muß man sich um das eigene Geschäft, um den eigenen Job kümmern, denn in vieler Hinsicht ist der Bürger hier mehr auf sich selbst gestellt als sein europäisches Gegenstück.

New York ist, wie schon gesagt, nicht Amerika. Keine der vielen großen und kleinen Städte in den fünfzig souveränen Bundesstaaten kann von sich behaupten, das Land zu repräsentieren. Aber es gibt kaum eine Stadt, die einen stärkeren Kontrast zu New York bietet als San Francisco. Unvergleichlich schön gelegen, kühl, elegant, blickt die Stadt nach Westen, nicht nach Europa. In seiner Geschichte figurieren nicht England, sondern Spanien und Mexiko und Mitteleuropa. Als die unabhängige California Republic den Vereinigten Staaten beitrat, lag noch Indianergebiet zwischen Kalifornien und den restlichen Vereinigten Staaten. Heute hat Kalifornien die größte Bevölkerung von allen fünfzig Staaten, und ist somit auch politisch der wichtigste.

Die letzten Wahlen brachen die frühere Oppositionspartei an die Regierung. Viele Änderungen in der Verwaltung des Staates waren versprochen, und die neue Regierung muß jetzt ihre Versprechen einlösen.

Washington scheint noch weiter von San Francisco als von New York. Probleme auf Bundesebene sind relativ selten und vornehmlich lokaler Natur, etwa wenn sie eine Flottenbasis in Südkalifornien oder eine Luftwaffeninstallation im Norden betreffen. Ansonsten sind die Probleme der Organisierung landwirtschaftlicher Gewerkschaften vorrangig-

Es kann leicht passieren, daß ein Brief nach „Austria“ irrtümlich von der Post nach „Australia“ geschickt wird. Als in Östereich der Kanzlerkandidat der Oppositionspartei zwei Monate vor den Wahlen so tragisch den Tod fand, berichtete keine Zeitung darüber.

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