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Warum rennt Bresdinjew?

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In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg erschien ein Roman, der in Amerika und darüber hinaus viel Aufsehen erregte. Er hatte den Titel „What makes Sammy run? — Warum rennt Sammy?“

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In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg erschien ein Roman, der in Amerika und darüber hinaus viel Aufsehen erregte. Er hatte den Titel „What makes Sammy run? — Warum rennt Sammy?“

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Sammy war ein kleiner Junge aus New York, der sich trotz allerlei Schwierigkeiten zu einem der herrschenden Männer in Hollywood emporarbeitete. Warum ist er Tag und Nacht in Bewegung? Warum kann er nicht abschalten? Weil er Angst hat, eine unbestimmte Angst, alles Errungene wieder zu verlieren, oder Angst davor, es nicht noch weiter zu bringen.

Warum rennt Breschnjew? Es dürfte in den letzten Monaten auch den unpolitischsten Beobachtern des Weltgeschehens aufgefallen sein, daß der erste Mann der Sowjetunion und nach ihm auch der zweite und der Außenminister und auch andere Prominente aus dem Kreml unaufhörlich auf Reisen sind oder Prominente aus anderen Staaten in Moskau empfangen. Sie sind alle so sehr und so ständig in Bewegung, daß man sich fragt, ob sich bei ihnen noch nicht herumgesprochen hat, daß es ein Telephon und einen Telegraphen und drahtlose Telegraphie gibt und sogar diplomatische Vertretungen allerorts.

Gewiß, man ist von den Russen gewöhnt, daß sie die Initiative ergreifen. Aber eigentlich taten sie das selten durch Verhandlungen, sondern dadurch, daß sie ihre Partner vor vollendete Tatsachen stellten, indem sie irgend etwas unternahmen, womit niemand gerechnet hatte. Aber die Reisen, sei es, daß sie sie selbst unternehmen oder daß sie andere dazu einladen, sind das Gegenteil von vollendeten Tatsachen, sind der Wunsch, sich über etwas zu unterhalten, sich über etwas einig zu werden.

Warum diese Hast? Warum diese Nervosität?

Leute, die alles zu wissen glauben, haben gesagt und geschrieben, dahinter stehe die Angst vor den Chinesen. Aber einmal angenommen, daß die Sowjets wirklich befürchten, in einen Konflikt mit den Chinesen zu geraten: was helfen ihnen alle diese Abmachungen, die sie in der letzten Zeit getroffen haben und diejenigen, die sie in nächster Zeit zu treffen gedenken? Was, um nur ein Beispiel zu nehmen, nutzt ihnen der Vertrag, den sie mit der Bundesrepublik abschließen wollen, beziehungsweise abgeschlossen haben, der aber wohl noch nicht ratifiziert wird? Doch nur, daß die Bundeswehr sich nach siegreicher Durchquerung von Ostdeutschland, der Tschechoslowakei und von Polen, nicht auf die Sowjetunion sürzen wird. Ähnlich absurd ist das Zuendedenken anderer Nichtangriffspakte oder Beistandspakte.

Und warum wollen die Russen eine europäische Sicherheitskonferenz? Man muß ihnen beipflichten, daß eine solche Konferenz, insbesondere wenn sie gut ausgeht, zumindest keine Nachteile bietet. Denn sie verpflichtet die Russen selbst ja zu gar nichts.

Wie ernst es ihnen mit der eigenen Abrüstung ist, sehen wir daraus, daß sie gerade in der jüngsten Zeit das größte Atomexperiment der Geschichte yorgenommen haben. Oder daß so viele ihrer Spione sich in London betätigen. Jedenfalls zu viele, als daß England es noch ertragen wollte.

Weltsicherheitskonferenzen bedeuten für Diktaturen gar nichts. Wie auch die vorher abgeschlossenen oder auf der Sicherheitskonferenz beschlossenen Verträge nicht viel für sie bedeuten würden, soweit es ihre eigene Handlungsfreiheit angeht. Daß sie trotz aller Freundschaft, trotz aller Verträge über ein Land herfallen, wenn und wann es ihnen paßt, hat man 1953 in Ostdeutschland, 1956 in Ungarn und erst vor kurzem in der Tschechoslowakei erlebt.

Da trotz vieler Verträge in letzter Zeit das Tempo der Rüstung in der Sowjetunion nicht rückläufig wird, darf man sicher sein, daß sie auch nach der Weltsicherheitskonferenz oder zur Feier ihres Beginns nichts rückläufig werden wird.

Wozu also diese hektischen Unterhaltungen, Vertragsabschlüsse, das geradezu hysterische Pochen auf eine Weltsicherheitskonferenz?

Da ist vor einiger Zeit in London ein Jahresbericht des „Institute of Strategie Studies“ herausgekommen, in dem unter anderem einiges über die russischen Waffenlieferungen an andere Staaten zu lesen ist. Sie werden dort auf jährlich acht Milliarden Dollar geschätzt. Innerhalb der letzten zwei Jahre sind von den Sowjets allein nach Nordvietnam für eine Milliarde Dollar Waffen geliefert worden. Kuba wird mit 350 Millionen Dollar pro Jahr „versorgt“. Überhaupt wird jedes kommunistische Land irgendwie mit Waffen oder sonst kriegsnotwendigem Material beliefert. An der unangefochtenen Spitze steht freilich Ägypten. In den zwei Jahren, die dem Sechstagekrieg folgten, wurden für rund 4,5 Milliarden Dollar Waffen und Ausrüstungsgegenstände geliefert. Im Jahre 1970 allein für 2 Milliarden Waffen. Nicht eingerechnet sind die Lieferungen an Menschen, Technikern, Instruktoren, Fliegern. Mit Recht stellte der ehemalige israelische Minister Chaim Herzog fest, niemals in der neueren Ge- schite habe ein Land einem anderen so viel Waffen geliefert.

Ganz abgesehen davon, daß dies recht schlecht zu der Entspannung paßt, von der, wenn man ihm glauben darf, Breschnjew Tag und Nacht träumt, ganz abgesehen davon, daß diejenigen, die eine Politik machten, als ob sie seine Entspannungswünsche ernst nähmen — was kostet ihn das eigentlich? Was kostet das die Sowjetunion?

Ich habe Zahlen genannt. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß diese Zahlen, die das Institut in London veröffentlichte, weit unter der Realität liegen. Denn das weiß man ja, dafür sind die Diktaturen bekannt, daß sie nur das an Fakten herauslassen, was sie absolut nicht verschleiern können.

Aber selbst wenn die Zahlen höher lägen, als die in London veröffentlichten: Was bedeutet das für die sowjetische Volkswirtschaft? Doch zumindest eine sehr schwere Belastung.

Und ich glaube nun — aber das ist eine Meinung — daß Breschnjew gerade das nicht mehr länger durchhalten will. Wir lesen ständig von Schwierigkeiten innenpolitischer Art, von Protesten, von Verhaftungen in Moskau, in Leningrad. Und hier gilt in gesteigertem Maß was für die Waffenlieferungen gilt: Wir wissen sicher nicht den zehnten Teil von dem, was wirklich geschieht.

In der Sowjetunion ist man unzufrieden. Das bedeutet nicht, daß morgen eine Revolution ausbrechen wird, aber es bedeutet, daß eines Tages einmal eine ausbrechen könnte.

Niemand weiß das besser als der alte Revolutionär Breschnjew.

Wie begegnet man der Unzufriedenheit im Innern? Indem man das Leben attraktiver macht. Also mehr Konsumgüter, weniger Ausgaben für Waffen. Und da keiner im Kreml daran denkt, die Bewaffnung der Sowjetunion zu reduzieren, muß anderswo gespart werden. Zum Beispiel bei der Bewaffnung der Satelliten oder Ägyptens.

Und da könnte eine gelungene Sicherheitskonferenz Wunder wirken. Nach einer solchen Sicherheitskonferenz könnte Breschnjew mit gutem Gewissen allen denen, die bisher von ihm bewaffnet wurden, erklären, dies sei nun nicht mehr notwendig- Und er könnte eine Menge einsparen. Und könnte, was noch wichtiger ist, sich aus gewissen Verpflichtungen lösen.

Warum rennt Breschnjew von einer Konferenz zur anderen? Genau wie der kleine Sammy, der ein großer Mann in Hollywood wurde. Weil er Angst hat. Eine unbestimmte Angst.

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