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Warum Sikhs im Punjab rebellieren

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Die Erstürmung des Goldenen Tempels von Amrit-sar durch die indische Armee hat der Weltöffentlichkeit die explosive Lage im Norden des Subkontinents vor Augen geführt. Was sind die Hintergründe des Aufbegehrens der Sikhs gegen die Zentralregierung in Delhi?

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Die Erstürmung des Goldenen Tempels von Amrit-sar durch die indische Armee hat der Weltöffentlichkeit die explosive Lage im Norden des Subkontinents vor Augen geführt. Was sind die Hintergründe des Aufbegehrens der Sikhs gegen die Zentralregierung in Delhi?

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In den letzten Wochen und Monaten schien es, als ob in Nordindien ein Bürgerkrieg zwischen den beiden Religionsgemeinschaften der Sikhs und der Hindus ausgebrochen sei. Sant Jar-nail Singh Bhindranwale, der Extremisten-Führer im Punjab, dem indischen Bundesstaat an der Grenze zu Pakistan, fühlte seine Bevölkerung durch die Dominanz der Hindus bedroht.

Bhindranwale sammelte junge Arbeitslose und Studenten um sich, las ihnen aus dem Granth, der Bibel der Sikhs, vor und interpretierte den Text gleichzeitig als Schmähschrift gegen alle Andersdenkenden. So formierte der Sikh-Prediger Bhindranwale aus Glaubensbrüdern eine Kampfbrigade.

Sie sah keinen Unterschied zwischen Religion und Politik, oder gar zwischen religiösem Kult und nationalistischem Gedankengut, mordete und zerstörte, was sich ihrem sezessionistischen Tun in den Weg stellte. Und das war immerhin eine Nation vom Umfang des indischen Subkontinentes, die Säkularismus und die Integration aller Religionen, Sprachen und Völker auf die Fahne geschrieben hat und deren Staatsverfassung solche Eigenbrötelei nicht vorsieht.

Das Schicksal der abtrünnigen Sikhs war vorherbestimmt: die indische Regierung griff ein, wegen der außerordentlichen Hart-

näckigkeit der Extremisten gleich mit der Armee, und machte Sant Bhindranwale und seinen 500 bis 1000 Brigadisten den Garaus.

Die militantesten der nordindischen Sikhs, die in der ersten Juniwoche auf so tragische Weise ihr Leben verloren, waren nicht repräsentant für die Sikhs, die sich ebenfalls „Autonomisten" nennen und von Indira Gandhis Kongress-Regierung in Neu-Delhi unabhängiger sein möchten. Die Wurzeln deren gewaltlosen Bittgangs für eine nationale Identität gehen weiter zurück als die Terroraktionen, mit denen Punjab in den letzten zwei Jahren konfrontiert war.

Punjab im äußeren Nordwesten des indischen Subkontinents war immer schon Südasiens Wetterecke. Hier brachen die Stürme der islamischen Ostasienfahrer herein, von Chingis Khan bis zu den Türken. So entwickelte sich hier oben ein besonders robustes Völklein, das sich dann um 1700 auch gegen die Brahmanen, die ganz Nordindien dominierende Hindu-Elite und deren Vielgötterei und Gesellschaft-Hierarchie wehrte.

Der Gründer des Sikhismus, Guru Nanak, wollte eine Art soziale Einheit schaffen. Doch blieb seine Neukreierung nicht mehr als eine Reformbewegung, auch wenn sie gleichzeitig islamisches Ideengut integrierte.

Der Traum von einer unabhängigen Religionsgemeinschaft, gar von einer eigenen Nation und bald von einem von Britisch-Indien selbständigen „Sikhistan" war dennoch nicht mehr zu verdrängen.

Nach Abzug der Briten 1948 wurde der Subkontinent in Indien und Pakistan getrennt, die Grenze ging quer durchs Punjab, das Land der Sikhs. Dieses reichste Landwirtschaftsgebiet erlebte gewaltige Einbußen. Trotzdem arrangierte man sich, diesseits in Pakistan die Muslims unter sich, hier in Indien die Sikhs und Hindus.

Trotz der historischen Abspaltung des Sikhismus vom Hinduismus bildeten die Anhänger beider Gemeinschaften in Nordwestindien eine kulturelle Gruppe, eben die Punjabis. Religionswechsel und gemischte Hochzeiten waren an der Tagesordnung.

Die politischen Autonomieverlangen gegnüber der indischen Regierung stammen aus der Zeit, als Nehru und seine Kongreßregierung die Sikhs in der Verfassung nicht als eigene Identität nannten und es seither den Anschein macht, als werde die Minderheitsbevölkerung - die insgesamt 18 Millionen Sikhs machen lediglich zwei Prozent aller Inder aus - als bloßer Ableger der Hindus behandelt.

Eine der bedeutendsten Aktionen während der jüngsten Unruhen im Punjab war denn auch die Verbrennung dieses Artikels 25 der indischen Grundgesetze—keineswegs etwa durch die radikalen Sikhs, sondern durch die Mitglieder der politischen Sikh-Partei Akali Dal.

Organisiert haben sich die Sikh-Autonomisten jedoch erst bei der Abfassung der legendären „Anandpur-Sahib-Resolution" im Oktober 1973. Hier wurden nun die konkreten Forderungen der Mehrheit der Punjabis an die Adresse der Regierung Gandhi in Neu-Delhi formuliert: alle Regionen, wo die Sikhs die Mehrheit bilden, sollen mehr Autonomie erhalten.

Das heißt konkret, das Zentrum in Delhi dürfe nicht wie bisher die Sikhs bei der Vergabe von Entwicklungssubventionen umgehen, die Sikhs wollen ihren Anteil an der nationalen Industrie, ihre Wasserrechte an den Flüssen aus dem Himalaya und eine eigene Hauptstadt. Bisher mußte Punjab die Stadt Chandigarh mit dem Nachbar Haryana teilen.

Sozio-ökonomisch gesehen gehen die Forderungen der Sikh-Autonomisten tiefer. Im Punjab war und ist die Landwirtschaft mehrheitlich in den Händen der Sikhs. Sie wissen, daß sie die „Kornkammer" Indiens stellen und für dessen Selbstversorgung auf dem Nahrungsmittelsektor zuständig sind.

Die Hindus im Punjab stellten immer schon die Händlerkaste, besaßen also das Kapital. Damit gingen sie sehr sparsam um, und die Sikhs mit ihrem Bodenbesitz waren von höheren Schulen und den modernen Berufen ausgenommen.

Dieser wirtschaftliche Graben vertiefte sich, je länger die Regierungen in Neu-Delhi, Premierministerin Indira Gandhi nicht ausgenommen, Wirtschaft und Religion als Stimmenfänger benützten und stark mit den Hindus sympathisierten. Auf diesem Boden der ethnisch-religiösen Spannungen wuchs auch das Mißverständnis zwischen Sikhs und Hindus im Punjab.

Neu-Delhi wie die Sikh-Partei Akali Dal gruben eine politische Streitaxt aus, die bald ganze Arbeit tat. Sie kam auch in die Hände von recht simpel denkenden Fanatikern wie Sant Jarnail Singh Bhindranwale, die aus irgendwelchen persönlichen Frusttrationen sich mit Mutproben brüsteten.

Die echten Sikh-Autonomisten waren durch Bhindranwales Gewaltfeldzug gelähmt, so auch die Regierung in Delhi, sofern sie überhaupt gewillt war, mit ihnen und dem Punjab einen politischen Kompromiß einzugehen.

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