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Was anfangen mit „neuer Musik“?

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Wieder ein denkwürdiges Konzert der „reihe“ im ORF-Sen- desaal: Friedrich Cerha dirigierte die Aufführung seiner fürs Festival von Royan entstandenen Sinfonie (1975); Siegfried Palm, weitbester Avantgardecellist und seit kurzem Chef der Deutschen Oper, Berlin, spielte Hindemiths Cellokonzert (Kammermusik Nr. 3,1935); dazu wichtige Werke von Hinde- mith aus seinen aggressivsten Tagen: das knallig-witzige „Repertorium für Militärmusik“ von 1922, „Minimax“, eine Knall- und Fall-Collage, musikalischer Slapstick wie aus Da- dadas wüstesten „Cabaret Voltaire“-Tagen in Zürich, und die 1. Kammermusik mit Finale (1921).

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Wieder ein denkwürdiges Konzert der „reihe“ im ORF-Sen- desaal: Friedrich Cerha dirigierte die Aufführung seiner fürs Festival von Royan entstandenen Sinfonie (1975); Siegfried Palm, weitbester Avantgardecellist und seit kurzem Chef der Deutschen Oper, Berlin, spielte Hindemiths Cellokonzert (Kammermusik Nr. 3,1935); dazu wichtige Werke von Hinde- mith aus seinen aggressivsten Tagen: das knallig-witzige „Repertorium für Militärmusik“ von 1922, „Minimax“, eine Knall- und Fall-Collage, musikalischer Slapstick wie aus Da- dadas wüstesten „Cabaret Voltaire“-Tagen in Zürich, und die 1. Kammermusik mit Finale (1921).

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Ein wichtiges Konzert also. Voll von Informationen über eine Epoche, da in Europa der Aufbruch zur Moderne mit allen Mitteln durchexerziert wurde (auch von Hindemith, dessen berüchtigt-aggressive Werke der zwanziger Jahre allerdings später im Archiv verschwanden, weil der „Klassizist“ sich nicht mehr so recht zu ihnen bekennen wollte!)… Und dazu im Gegensatz Cerhas Stück, das wie eine Meditation wirkt, Erinnerung und Sammlung nach den harten fünfziger und sechziger Jahren. Nach dem Formalisierungsprozeß avantgardistischer Experimentierwut und einem Festlegen auf Klischees ein Werk an der (koper- nikanischen?) Wende. Die Errungenschaften der fünfziger und sechziger Jahre entlang zurückverfolgt; ein Vermeiden all der Elemente, die man sich erobert und kultiviert hatte: Avantgarde im Rückspiegel…

Ein Konzert also, wie es im erstarrten Wiener Musikbetrieb mit seinen Wiener-Klassik-, Brahms- und Bruckner-Traditionen eigentlich jede Woche notwendig und fällig wäre, um den gewaltigen Rückstand aufzuholen, der dieses Wiener Konzertleben auf deprimierende Weise prägt.

tyien hat sich seit Ende der fünfziger Jahre immerhin einen Platz in der Entwicklung der neuen Musik erobert: Cerha, • Haubenstock-Ramati, Ligeti waren hier tätig, eine Reihe interessanter junger Komponisten starteten, bastelten im bescheidenst ausgerüsteten „Elektro-akustischen Studio“ der Wiener Musikhochschule ihre ersten Stücke. Das bald zu internationalem Ruhm gekommene „reihe“-En- semble Cerhas und Kurt Schwertsiks und die Musikalische Jugend hatten Basis- und Aufbauarbeit zu leisten, um erste Informationen in Sachen „neue Musik“ zu liefern. Wiener Konzerthaus und Musikverein rüsteten, um wenigstens nicht zur Seite zu stehen. Der ORF, seit Dr. Otto Sertls Rückkehr nach Wien auf Position Avantgardeförderung, tat alles, um der „reihe“ den schweren Weg zu erleichtern, ja, er förderte die Aufführung kostspieliger großer Werke, kümmerte sich um repräsentative Uraufführungen. Der „steirische herbst“, genauer das Grazer ORF-Musikprotokoll, wurde zum Spiegelbild der internationalen Musikereignisse. Die Situation, zwar noch lange nicht so dynamisch und brisant wie in den goldenen zwanziger Jahren, schien günstig. Neue Musik begann sich durchzusetzen.

In den frühen siebziger Jahren kam indes die Katastrophe: Finanzengpässe. Der Stau neuer Werke versiegte; der Mut auch. Musikverein und Konzerthaus, die zwar die Aufgabe gehabt hätten, erst einmal noch alles wichtige zu präsentieren, was da geschrieben worden war, gaben lieber gleich auf, da die Aufführung neuer Musik zu „unrentabel“ schien. Die Jeunesses steckten zurück. Übrig blieb der ORF, der die „reihe“ bei sich beheimatet hatte und damit letztlich auch aus dem Verkehr zog.

Denn den Sendesaal in Wiens Konzertleben wirklich zu integrieren, war nicht möglich. Die Werbung versagte. Der kontinuierliche Einsatz hoher Geldmittel brachte auch nicht so rasch spektakuläre Erfolge (als ob es bei dergleichen Aufbauarbeit überhaupt auf Sensationserfolge ankäme!). Das Ergebnis: neue Musik ist wieder zum Relikt geworden. Eine Erinnerung an vergangene Jahre, die heute in ihrem Interesse an Neuem geradezu schon paradiesisch wirken. Und die „reihe“, deren Konzerte zwar international noch immer „Ereignisse“ sind, gilt hier nur noch wenig. Oder bestenfalls etwas für Insider, die in den Sendesaal pilgern, um sich „Zuckerln“ nicht entgehen zu lassen.

Eigentlich trostlos. Neue Musik wird in Wien wieder bloß als Pflichtübung angesehen, weil das schlechte Gewissen drückt, daß man für die Gegenwart nichts tut. Ist das nicht aber ein deutliches Abbild unseres gesamten

Kulturverhaltens? Der Stellenwert unserer Gegenwart und ihrer Produktionen rangiert irgendwo am Rande, nähert sich dem Nullwert, während wir hunderte und hunderte Millionen jährlich fast ausschließlich in die Reproduktion des Alten stopfen. Die Musikkultur Wiens - ein phantasielos geführter Museumsbetrieb. Zu bewundern ist nur die Sorglosigkeit, mit der wir die Zukunft unserer musikalischen Kultur durch die rosarote Brille sehen. Als ob wir unentwegt aus dem Vollen unserer Tradition schöpfen könnten! Wie lange noch?

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