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Was bedeutet „Leben“ wirklich

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Es ist in der Katholischen Aktion Tradition geworden, Themen von besonderer Wichtigkeit als „Jahresthemen“ zu proklamieren, um sie so in das geistige Bewußtsein der Öffentlichkeit zu heben und zur Grundlage vielfältiger Erörterungen zu machen. Es geht also nicht in erster Linie um Programme oder Aktivitäten, sondern um das Auffinden und Bewußtmachen jener geistigen Kraftfelder, die in der jeweiligen Gesellschaft vorhanden sind.

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Es ist in der Katholischen Aktion Tradition geworden, Themen von besonderer Wichtigkeit als „Jahresthemen“ zu proklamieren, um sie so in das geistige Bewußtsein der Öffentlichkeit zu heben und zur Grundlage vielfältiger Erörterungen zu machen. Es geht also nicht in erster Linie um Programme oder Aktivitäten, sondern um das Auffinden und Bewußtmachen jener geistigen Kraftfelder, die in der jeweiligen Gesellschaft vorhanden sind.

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So gesehen erhebt sich die Frage, ob das Thema „Jesus Christus, das Leben der Welt“ wirklich eine allgemeine Fragestellung darstellt, oder ob es sich einfach um eine praktische Themenstellung handelt, die das ORF-Kolleg II einbegleitet und umrandet? Was bewegt heute die Menschen? Was lebt hinter der Oberflächenfassade? Was sind die eigentlichen Sehnsüchte des heutigen Menschen? Ist es denn nicht die Frage, die Solschenizyn in der „Krebsstation“ formuliert hat: Wovon lebe ich? Oder weniger literarisch ausgedrückt: „Ich möchte leben“; „möchte intensiver leben“; „möchte am Leben nicht vorbeigehen“; „möchte nicht haben, daß ich umsonst lebe“; „ja, wovon kann ich wirklich leben?“

Oder ist die zum Schlagwort gewordene Forderung nach mehr „Lebensqualität“ nicht mehr, als der Ruf nach Wasser und Luft und ein bißchen Grün vor den Fenstern? Ganz sicher drückt sich hier der Wunsch nach „Leben“ in einem tieferen und umfassenderen Sinn aus!

Wir leben heute in einer fast allgegenwärtigen Bedrohung! Die Gewöhnungsmechanismen, die wir entwickelt haben, helfen uns, zwar äußerlich mit der gegebenen Lage fertig zu werden, sie ändern aber die Problematik selbst nicht.

Halten wir uns diese Bedrohungen vor Augen!

•Von außen die in Ost und West lagernden Vernichtungswaffen, der Terrorismus, die Naturkatastrophen, die Umweltgefahren.

•Von innen die Wohlstandsbela- | stungen, das Leben im Streß, die Reizüberflutung, die Überinformation, der Lärm, die Manipulation, das „Sich-überfordert-Fühlen“ und |das „Keine-Zeit-f ür-sich-selber-Haben“.

Vor der Bedrohung versucht der Mensch immer schon zu fliehen, davonzulaufen, ob in die verschiedenen Drogen, den Alkohol, ob harmloser in den Urlaub, auf Reisen, in den Wohnungs- und Berufswechsel.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Thema „Leben“ immer größere Bedeutung. Was aber bedeutet „Leben“ wirklich? Die praktische Antwort mag für viele Menschen sehr verschieden ausfallen! Eine umfassende Betrachtungsweise wird zunächst an die materielle Lebensgrundlage denken: Nahrung — Kleidung — Wohnung — Sicherheit — Beruf und Einkommen.

Nicht weniger wichtig ist die „geistige Lebensgrundlage“: Angenommensein — Vertrauen haben — Anerkennung erhalten. Auf dieser Grundlage erst kann sich das Leben entfalten und verwirklichen. Die konkrete Sinngebung für die konkrete Lebenssituation ist dabei ebenso bedeutsam, wie die „dreidimensionale“ Entfaltung des Menschen in personaler, sozialer und religiöser Hinsicht.

So gesehen ist jeder, der auch nur eine Dimension seines Wesens nicht zur Entwicklung kommen läßt, ein „verkümmerter Mensch“, in dem der unausrottbare Wunsch nach der Fülle des Lebens an der Selbstbegrenzung und Selbstverkümmerung scheitert.

Diese Sehnsucht nach der „Lebensfülle“ führt das Thema „Leben“ weiter zum Thema „Lehen in Christus“ und damit zum eigentlichen Jahresthema.

Noch einmal muß unsere Lebenserfahrung klar bewußt werden: Wir erleben uns nicht nur als Bedrohte, sondern immer wieder auch als „Stecken-gebliebene“, als Kümmerformen des eigentlichen Menschseins in Vergänglichkeit, Schuld, Krankheit und der Gewißheit des Todes. Aus dieser Erfahrung erhebt sich die wahrhaft existentielle Frage: Wie kann ich befreit werden aus meiner bedrohten, verkümmerten Existenz?

Auf diese Frage gibt es neben vielen „Antwortversuchen“ eine Antwort: Jesus, den Christus, der gekommen ist, damit wir das Leben in Fülle haben! (Joh. 10, 10)

Wie aber finden wir diese „lebendige“ Antwort? Die Antwort ist in zweifacher Richtung zu suchen: Einmal haben wir die Zusicherung, daß nicht nur wir diese Antwort suchen, sondern daß diese „Antwort auch uns sucht“; das heißt, daß Gott jeden Menschen sucht, damit der Mensch dieses Leben in Fülle findet. Zum anderen haben auch wir unseren Teil beizutragen, und es gehört zum praktischen Teil des Themas, darüber zu sprechen und Erfahrungsmöglichkeiten innerhalb der KA dafür zu schaffen: zum Gebet, zur Schriftanwendung für das persönliche Leben und die jeweilige Lebenssituation, zum rechten Verständnis der Sakramente und besonders zum fruchtbaren Mitvollzug der Eucharistie.

Daß die KA, die ein großes Netz von Runden und Gruppen hat, dafür besonders geeignet ist, ergibt sich aus der Erfahrung, daß die „Übertragung“ des Glaubens im allgemeinen in kleinen Gemeinschaften (Familie, Freundschaft, Gruppe) geschieht, in der das Naherlebnis eines gläubigen Menschen ebenso gegeben ist, wie die Möglichkeit des Glau-bensgespräches und damit des Erfahrungsaustausches und- der redlichen Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten und Hindernissen.

Das „Leben in Christus“ ist aber keineswegs ein bloßes begütertes Privatleben! Mit der Begegnung mit dem Herrn ist immer auch der Auftrag, die Sendung, oder nüchterner ausgedrückt, die Verantwortung mitgegeben. Diejenigen, die begonnen haben, die Antwort auf ihre Lebensfrage zu bekommen, dürfen ihrerseits die Antwort an die fragenden Menschen nicht schuldig bleiben. So gesehen ist das „Leben in Fülle“ zugleich ein Leben in Verantwortung!

Leben in Verantwortung bedeutet für jede Zeit etwas Spezielles. Heute scheint es besonders um folgende Bereiche zu gehen:

•Um die Sorge um die Gesellschaft: Daß unsere Gesellschaft menschlicher werde und nicht versinkt im Materialismus, Bürokratismus und Atheismus. Die Gestaltung der Gesellschaft braucht das Engagement des einzelnen und das organisierter Gruppen. '

•Um die Sorge, allgemein verpflichtende außer Streit stehende Werte zu erhalten und neu durchzusetzen: Freiheit und Menschenwürde, Versöhnung, Friede, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Unantastbarkeit des Lebens müßten solche Werte sein. Es müßte ein Gespräch beginnen über die Werte, die allen schützenswert sind und die außer Streit gestellt werden können.

•“ Um die Sorge der notwendigen Lebensgüter für Gegenwart und Zukunft: Die KA müßte versuchen, eine Gesinnung zu schaffen, die einen allgemeinen Kampf gegen die Verschwendung auslösen müßte.

•Um die Sorge einer gesunden — auch geistigen Umwelt: Pornographie, Brutalität, Kriminalität sind hier die Krankheitssymptome. Die KA müßte mithelfen, die Ursachen zu finden und sie zu beheben suchen, nicht nur Symptombekämpfung mit geringer Wirksamkeit durchzuführen.

•Um die Sorge der Weitergabe der Botschaft Jesu: Das Verdunsten von Glaube und Kirchlichkeit in weiten Bereichen unserer Gesellschaft müßte die KA zu einem umfassenden Konzept des „Dienstes am Glauben“ der Menschen veranlassen.

Zuletzt noch einige Vorschläge für gemeinsame organisierte Aktivitäten im Rahmen des Jahresthemas:

•Das ORF-Kolleg „Wem glauben“, Gruppentage und Gesprächsrunden sind eine reale Chance zur Glau-benserweckung und -Vertiefung.

•In den Gruppen der KA sollen Möglichkeiten der „Gebetserfahrung“ geschaffen werden („Erfahrungsaustausch“, gegenseitige Hilfe, Modelle).

•Schutzmaßnahmen für das Leben in den verschiedenen Phasen: Ungeborenes Leben — Beratung für Mütter, Hilfen in Notsituationen. Kranke und alte Menschen — nicht nur Betreuung, sondern Integration.

•Lebensqualität in den Familien: Sorge um eine Atmosphäre des Vertrauens, der Versöhnung, der Offenheit; 'Familiengebet, Feste, Gesprächsbereitschaft.

In pragmatischen Aktivitäten — so unerläßlich und notwendig sie sein mögen — kann dieses Thema nie voll verwirklicht werden, sondern letztlich nur in einer geistigen Bewußtwerdung der tieferen Wirklichkeit des Lebens.

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