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Was Bildung ist

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Es spricht sich langsam herum - unserer erneuerungsbedürftigen Schule kann nicht durch Variation der Organisationsformen, sondern nur durch innere Reform geholfen werden. Organisationsformen sind hilfreich, bleiben aber leer, wenn sie nicht von den richtigen Menschen getragen werden, vom richtigen Geist erfüllt sind. Die äußere Schulreform wird deshalb von manchen bevorzugt, weil sie leichter zu verwirklichen ist. Innere Schulreform ist viel mühsamer, erfordert mehr Einsatz, mehr gedankliche Arbeit, bringt aber wesentlich mehr.

Die drei Pfeiler der inneren Schulreform sind: Klärung des Bildungsbegriffes, Lichtung der Lehrpläne, bessere Ausbildung der Lehrer.

Im folgenden soll versucht werden, den Begriff Bildung für den Bereich AHS herauszuarbeiten.

Bildung ist nicht identisch mit Ausbildung, wenn auch in engem Zusammenhang mit dieser zu erwerben. Unsere Schule ist sehr stark von Wissen- schaftsgläubigkeil geprägt, sie bietet vorwiegend Wissensbildung statt Charakterbildung, die sich mit Wissenschafts verjWnrf/gfcei/ vereinigt. Dabei kommt es auf die Weckung des Wertsinnes (die Motivation schlechthin) und auf das Erlebnis des Entdeckens und Einordnens, Verstehens und Verknüp- fens an. Bildung als Prozeß braucht Muße und kann nicht beschleunigt werden.

Was ist also Bildung? Sie ist nicht identisch mit Information, sondern mit Formation - sie ist die geistige Weckung und Formung der ganzen Person.

Wir vergessen allzu leicht die menschlichen Voraussetzungen unserer Bildungsvermittlung in der Schule. Die erste und wichtigste ist wohl die Verwurzelung des jungen Menschen in der primären Welt, d.h. in der Welt der direkten Erfahrung der unverstellten Sinne und der bergenden Beziehung zu wenigen Menschen. Verfrühtes Lernen im akademischen Sinn gehört zu den eklatantesten Instinktlosigkeiten unserer in elementaren menschlichen Dingen so instinktlos gewordenen Zeit.

Die zweite, nicht weniger wichtige Bedingung ist die Weckung des Wertsinnes auf möglichst vielen Gebieten und Hilfe beim Aufbau der Wertwelt der Persönlichkeit. Sie hilft dem jungen Menschen, Freudenquellen in seinem Leben zu finden. Auch das ist eine Anstrengung, die Anleitung und Ausdauer über Jahre braucht.

Bildung meint den ganzen Menschen, nicht nur den Verstand, sondern auch und vor allem sein Gemüt, das beim heutigen Bildungsbetrieb zum Verkümmern verurteilt ist. Dabei ist gerade das Gemüt des Menschen der Wurzelgrund und Nährboden seiner Existenz, ohne den sein Dasein dürr und öd wird.

Ganz wichtig ist in der Schule auch die Einübung liebender Mitmenschlichkeit. Dazu braucht es eine überschaubare und über längere Zeit gleichbleibende Gruppe, in der der junge Mensch lernt, daß die wohlgeordnete Gemeinschaft entscheidend für das „gute Leben“ ist. Ein gutes Arbeitsklima in der Klasse, die partnerschaftliche Haltung des Lehrers, mehr Selbsttätigkeit des Schülers durch Gruppenarbeit sind dabei wirksame Hilfen.

Erst auf diesem Nährboden kann der Schüler zu den grundlegenden Geistestätigkeiten angeregt werden. An ihrer Spitze steht die Beherrschung der Muttersprache als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel. Eng damit verbunden ist das Kennenlernen der großen Stoffe und Formen der Dichtung als Beispiele menschlicher Situationen und Charaktere. Sie sind zeitlose Bilder jener humanen Imagination, die Portmann für einen so wichtigen Nährboden der primären Welt hält.

Weiters kommt das Beobachten und

Beschreiben der Natur und ihrer Phänomene. Ernst Mach meint, daß das Nachvollziehen einer einzigen naturwissenschaftlichen Entdeckung den jungen Menschen mehr über die Natur lehren würde als Vielwissen, nach dem er nicht gefragt hat.

Natürlich ist ein wichtiges Bildungsziel das Lemeh von Methoden, die lehren, welche Fragen zu stellen sind und auf welchen Wegen Antworten zu finden sind.

Der junge Mensch, der zu diesen Tätigkeiten durch Jahre angeleitet wird, ist langsam fähig zum Aufspüren von Verknüpfungen zwischen den Fächern. Das ist lohnend und befriedigend für ihn, weil es ihm erlaubt, ein Grundanliegen der menschlichen Person zu verwirklichen - nämlich Integration und Einheit. Die Spaltung ist der menschlichen Natur zuwider.

Sehr wichtig erscheint mir auch, die Möglichkeit zu schöpferischer Tätigkeit zu geben, durch Ausdruck in Sprache, Formen oder Bewegung, oder durch schöpferisches Nachvollziehen von Kunstwerken.

Aus dem Gesagten geht hervor, ein wie großes Übel die Verwissenschaftlichung des Unterrichts an der AHS ist. Statt dem jungen Menschen bei der Entfaltung seiner Verstandes- und Gemütskräfte zur Seite zu stehen und ihm zu helfen, die Fundamente des Wissens zu erwerben und ihn vor allem zu diesem Tun tief menschlich zu motivieren, prasselt ein Hagel von Abgüssen, Abrissen, Systematiken und Dogmatiken auf ihn nieder. Der bekannte Totalanspruch auf das Schülergehirn tritt ein.

Da gibt es Reaktionen zwischen zwei Extremen: entweder das Gejagtwerden vom Stoff oder das Resignieren vor ihm. Darum wohl empfinden so manche junge Menschen Bildung als Fron statt als lohnende Erfüllung ihres Lebens.

Geben wir ihnen doch wieder Gelegenheit, sich mit der Bildungsarbeit der Schule identifizieren zu können. Helfen wir ihnen doch durch eine Revision des Bildungsbegriffes, ihre lange Schulzeit zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu nützen. Sie werden dann wieder verstehen; daß dies Gabe und Aufgabe ist - für sie und für die Gemeinschaft, in der sie leben.

Die Autorin ist AHS-Professorin in Wien

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