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Was blieb vom 12. November?

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Unser an Merkwürdigkeiten niemals armer Staat beging heuer seinen Nationalfeiertag am 26. Oktober-wie eh und je - mit Fitneßmärschen; hingegen versammelt sich das Bundesparlament mit den Spitzen der Länderparlamente, der Bundes- und Landesverwaltungen, den Repräsentanten der Religionsgemeinschaften und dem Diplomatischen Corps am 12. November, um der 60. Wiederkehr der Ausrufung der Republik im Jahre 1918 zu gedenken.

Nicht so unausgewogen - wird vielleicht mancher einwenden -, denn schließlich wurde am 12. November 1918 der Staat begründet, während am 26. Oktober 1955 „nur“ die wiederhergestellte und von den Besatzungstruppen geräumte Republik einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte begann, und zwar durch die Verabschiedung des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität.

Der Geschichtskundige mag dennoch zögern, dem 12. November eine absolute Priorität gegenüber dem 26. Oktober einzuräumen: Denn das von der Provisorischen Nationalversammlung am 12. November 1918 beschlossene Gesetz über die „Staatsund Regierungsform von Deutschösterreich“ begann mit folgenden Sätzen:

„Deutsch-Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt. Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik ...“ Was somit geschaffen wurde, war - wie Historiker treffend bemerkten - ein Staat „wider Willen“, einer, den viele bis 1938 oder kurz danach nicht wollten.

Dennoch oder vielleicht gerade deswegen erscheint es geboten, jenes historischen Schrittes zu gedenken, der aus dem deutschsprachigen Teil der in voller Auflösung befindlichen „Österreichisch-Ungarischen Monarchie“ eine neue Republik schuf, deren Grenzen zu dieser Zeit noch nicht einmal feststanden; denn das bittere Wort: „Der Rest ist Österreich“ wurde ja erst in Saint-Germain gesprochen.

Aber was sich in diesen bewegten Tagen des Oktober und November 1918 vollzog, war eine unblutige Revolution, die von einer „Vollversammlung aller deutschen Abgeordneten“ ausging, welche bekanntlich ab 21. Oktober 1918 „Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs“ hieß.

Mit dieser Feststellung scheint zugleich ein entscheidender Unterschied zwischen der Ersten und der Zweiten Republik angesprochen: 1918 war erst das Parlament vorhan-

„1918 war erst das Parlament vorhanden“

den, das eine Regierungsgewalt von sich aus installierte; 1945 entstand unter der Patronanz der Besatzungsmächte zunächst eine „Provisorische Staatsregierung“ im April, erst im Dezember konnte nach freien Wahlen das Parlament wieder auf den Plan treten.

Und während der juristische Mitbegründer der Ersten Republik, Hans Kelsen, feststellte: „Schon nach den Bestimmungen des Verfassungsbeschlusses vom 30. Oktober und der sich ihm unmittelbar anschließenden Verfassungsgesetze erscheint Deutschösterreich als eine repräsentative Demokratie mit ausgesprochener Parlamentsherrschaft“, wird heute vielfach beklagt, daß sich das Parlament zu wenig gegenüber Regierung, Verwaltungsbürokratie, Sozialpartnerschaft und anderen Institutionen bzw. gesellschaftlichen Kräften zu behaupten vermag.

War dem historischen Ereignis

vom 12. November 1918 also kein durchschlagender Erfolg beschieden? Ist unser Staat noch immer keine „res publica“, keine Sache der Allgemeinheit oder kein - wie Renner es ausdrückte - „Volksstaat“ geworden? Uber diese Frage darf man sich nicht mit zeremoniellem Festgepränge hinwegsetzen, selbst wenn die Antwort schwerfällt.

Betrachtet man die Wertschätzung unseres parlamentarischen Systems in der öffentlichen Meinung, so scheint die Tradition der Monarchie fast noch immer stärker als die der Republik: Galt doch bis 1918 die Exekutive im weitesten Sinne - vor allem Bürokratie und Militär - als wichtigster Garant des Staatsbestandes, während die parlamentarische Körperschaft „Reichsrat“ eher „staatsbedrohende“ Kräfte wie die Parteien und vor allem die Nationalitaten freizusetzen schien.

Etwas davon ist dem Österreicher geblieben: Er schätzt die Machthaber, also Regierungsmitglieder, Parteiführer, Kammerpräsidenten und andere, nicht aber den einfachen Abgeordneten, der ihn vor den Mächtigen schützen soll. „Volksvertretung“ ist bei uns anscheinend noch mehr Fremdwort als „Parlament“.

Hat es schon die erste Kammer, der Nationalrat, schwer, sich zu behaupten, so um so mehr die zweite Kammer, der Bundesrat. Zwar standen an der Wiege sowohl der Ersten als auch der Zweiten Republik sogenannte „Länderkonferenzen“; ja man kann sogar mit Recht sagen, daß „sich zur Zeit der Entstehung des Bundesstaa-

„Tradition der Monarchie fast noch immer stärker“

tes eine umfangreiche gliedstaatliche, jedoch keine nennenswerte gesamtstaatliche Verwaltung vorgefunden“ hat und „die Länder auf dem Gebiet der Gesetzgebung bereits im konstitutionellen Staate reichlich Erfahrung gesammelt haben“ (Goldinger).

Mit anderen Worten: Zuerst waren die Bundesländer - als Nachfolger der ehemaligen Kronländer - staatsrechtlich vorhanden und dann kam der Bund.

Ein wiederum merkwürdiger Zufall hat bewirkt, daß knapp vor der Festsitzung vom 12. November am 5. November des heurigen Jahres die erste Volksabstimmung stattfand, wie dies unsere Verfassung schon seit bald 60 Jahren vorsieht. (Nur Ignoranten zählen sie als zweite und vergleichen sie mit der Volksabstimmung und Reichstagswahl vom 10. April 1938.)

So lange Zeit braucht es also, bis selbst von einer in unserer Bundesverfassung ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht wird! Aber daß dies geschah, stellt -trotz der nicht gerade idealen Gesetzesformulierung, über die das Volk zur Entscheidung aufgerufen war, trotz der parteipolitischen Verzerrung einer an sich reinen Sachfrage, und wie immer man zum Ergebnis dieser Volksabstimmung stehen mag - einen Fortschritt dar.

Wahrscheinlich wird also die Ausrufung der Republik am 12. November 1918 erst dann ihre vollen Früchte tragen, wenn Volksabstimmungen und Volksbegehren häufiger sein werden als bisher; wenn weder Zeitungsschreiber noch Zeitungsleser der detaillierten Schilderung von Staatsbanketten (samt Speisenfolge) mehr Aufmerksamkeit widmen werden als den sicher schwerer zu vermittelnden und zu verstehenden Debatten im Nationalrat und im Bundesrat der Republik; und wenn schließlich auch der einfache Staatsbürger häufiger von der „Volksvertretung“ als vom „Parlament“ sprechen wird.

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