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Was blieb vom historischen Kompromiß?

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Bei der Synode der Bistümer in der BRD war die Stellungnahme zur Frage „Kirche und Arbeiterschaft” jüngst heiß umstritten. Das große Schuldbekenntnis — hauptsächlicher Verfasser war Oswald von Nell-Breuning — über das historische Versagen der Kirche in der Arbeiterfrage wurde in seiner Richtigkeit bezweifelt und dabei auf verdiente Männer in der katholischen Sozialbewegung hingewiesen, die ungenügend in Rechnung gestellt worden seien.

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Bei der Synode der Bistümer in der BRD war die Stellungnahme zur Frage „Kirche und Arbeiterschaft” jüngst heiß umstritten. Das große Schuldbekenntnis — hauptsächlicher Verfasser war Oswald von Nell-Breuning — über das historische Versagen der Kirche in der Arbeiterfrage wurde in seiner Richtigkeit bezweifelt und dabei auf verdiente Männer in der katholischen Sozialbewegung hingewiesen, die ungenügend in Rechnung gestellt worden seien.

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Angesichts der aktuellen Situation mutet dieser Streit eher gespenstisch an. Gibt es den Arbeiter überhaupt noch? Seit den sechziger Jahren und den Thesen von Helmut Schelsky über die nivellierte Mittelstands- geselilisclhiaft ist es um jene sozialen Schichten, die normalerweise als Arbeiterschaft bezeichnet wurden, ruhig geworden. Wie immer man diese breiten Bevölkexungsschichten bezeichnen möchte, nicht einmal die Nichtexistenz einer Arbeiterschaft wird mehr behauptet. In Vereinsnamen gibt es sie noch, wenn sie nicht stillschweigend durch ein anderes Hauptwort, das mit A beginnt (etwa: ARBÖ!), ersetzt worden ist. Es gibt auch noch die Verfechter des Gleichlhedtsideals im Sinne von Sozialnivellierung, die vor allem in jungen limkssoziaiistischen Gruppen izu finden Sind.

Es gibt sie aber noch, diese breiten Schichten der Bevölkerung, die sich einst unter bestimmten politischen Zielsetzungen gerne als Arbeiter bezeichnet haben, die heute noch zu einem guten Prozentsatz im Gewerkschaftsbund organisiert sind, darin aber eher eine halbstaatliche Anstalt zur Wahrung ihrer Lohn- dnteressen sehen. Es gibt sie noeh, die Schichten, dlie sich vor allem durch einen gewissen Mindestkonsum von den Unterschichten abheben, den neuen deklassierten Rand- echichten der österreichischen .Bevölkerung, besonders . aber vom „exterior proletariat”, das im breiten Humgergürtel dieser Erde rund um den Äquator angesiedelt ist, diese Schichten, deren Gesellschaftsideal vor allem im Aufstieg aus dieser namenlosen Masse in d)ie sozial gehobene Mittelschicht und deren Konsumgewohnheiten besteht. Es gibt sie noch, die Nachfolger der Arbeiterschaft von einst, denen geistiges Streben. Bildungshunger und Wissensdurst vielfach abhanden gekommen ist. Wer dlie einst stolzen Orte der Wiener Arbeiterbildung, die Volkshochschulen in den einstigen Arbeitervierteln der Großstadt, aufsucht, findet bei anspruchsvolleren Themen kaum mehr Zuhörer. Die These sei gewagt, daß es damals, in der Blüte der Arbeiterbildung, wendiger die Armut und Not jener Jahre der großen Arbeitslosigkeit waren, die das Arberterselbst- foewußtsein und das Blildungsstreben beflügelten, sondern daß es heute das Ende einer geistigen Faszination in Sendung und Aufgabe einer großen Gesellschaftsklasse ist, die zu Apathie und geistiger Leere geführt haben.

Da gibt es noch sozialistische Initiativen auf dem Gebiet der Schulpolitik. Ist es aber nicht ein Beweis für die Ermüdungstendenz in der Arbeiterschaft von einst, daß — gewiß das Ideal der Gleichheit mag bemüht und Chancengleichheit mag mißverstanden werden! — diese Bildungspolitik in Wirklichkeit eine einförmige Schulpolitik ist, die zur geistigen Nivellierung führt? Anstatt ein Billdungsstreben von unten nach oben zu eröffnen, werden die Mittel in Wegwerfbücher investiert. Anstatt den Weg des billigen Büches als” eih BlMuhigsangebot für’ Strebende zu sehen, wird Bildung ver- schult und damit nivelliert. Der Mangel an Biildungsiniitiattve von unten Wird durch Bildungsregtemen- itierung von oben ersetzt.

Der österreichische Sozialismus, der einst stolz auf seine Arbeiter- foildung vom Arbedterabstinenzler- .bund bis zur Arbeiterkultur war, ist retrospektiv geworden. In einer Zeit, in der die Möglichkeit verantworteter Elternschaft in Verbindung mit sittlichen Appellen an die Verantwortung und Bewältigung sinnvoll geübter Sexualität neue Wege eröffnet, ist es unverständlich, daß aus den aus der Not der Arbeiterfamilie und Arbeiterfrau von einst vielleicht verständlichen Forderungen nach Abschaffung des Paragraphen 144 eine Frdstenlösung geworden ist. Eine restaurative an Stelle einer zukunftsweisenden Lösung, auch wenn man den Geist des Sozialismus zur Voraussetzung nimmt. Die Misere der Großstadt ist ein ebensolches Beispiel für restaurative Tendenzen. Schon in den zwanziger Jahren wäre es notwendig gewesen, eine ganz neue Planung ‘ für die Hauptstadt eines kleingewordenen Staates in Angriff zu nehmen. Bis heute ist das Programm des „Roten Wien” darauf eingestellt, daß Wien „Weltstadt” bleibe. Wie wenig ddesės Wien tatsächlich eine angepaßte, realistische Faszination und Zu- kunftsparspektiven besitzt, hat schon eine holländische Untersuchung vor Jahren an Hand der Geburtenentwicklung Wiens gezeigt. Alis eine der Hauptursachen des großen Geburtendefizits wurde dort das Fehlen einer zukunftsigerichteten Mentalität, in der Bevölkerung’konstatiert.

Doch auch die katholische Kirche und ihre Seelsorge haben in diesen breiten Bevölkerungsschichten nur ein geringes Echo gefunden, das eher noch auf Grund der Vergangenheit lerscballt, das aber keine neuen geistigen Bewegungen auszulösen vermag. Die ORF-Reform, die gerade von Gewerkschaftskreisen mit der igutėn Absicht, den Bilduhigseihflüß auf die ‘ Bevölkerung zu steigern, initiiert worden ist, wird mit ihrem geistigen Gehalt ins Leere stoßen. Der Bildschirm ist und bleibt für diese breiten Schichten ein Versammlungsort zum billigen Abendvergnügen. Nur Ideen, die auf ein breites Echo stoßen, könnten die vielen Mitbürger aus ihrer geistigen Leere und Lethargie herausreißen. Auch innerkirchlich führen die kurze Zeit um die Mitte der fünfziger Jahre mit Begeisterung begrüßten Initiativen der katholischen Arbeiterjugend und der katholischen Arbeiterbewegung eher ein Randdasein, sie haben sich nicht als größere Impulse in das Bewußtsein der gesamten Kirche übertragen lassen.

Hier sind wir wieder beim Thema Kirche und Arbeiterschaft. Es genügt die konstatierende Feststellung, daß breite Kreise der Arbeiterschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter den Einfluß des marxistischen Sozialismus gerieten. Der dadurch eingeleitete Abbau christlich-kultureller und religiöser Werte kannte, in einigen Funktio- närsschiahten ausgenommen, durch das neue Gedankengut des Marxismus-Sozialismus nicht ersetzt werden. Als dann nach 1945 auch die sozialistische Funktionärsbildung weitgehend unter den Erfordernissen einer pragmatischen Tagespolitik betrieben wurde, wandelte , sich die alte Ideologie vollends zur Schablone und zum Deckmantel. Der Kompromiß des Parteiprogramms von 1958, der Sozialist könne seine .geistige Motivation aus dem Humanismus, dem Marxismus oder dem Christentum gleicherweise beziehen, wurde für viele zu einer agnostischen Formel, zu einer rein deklamatorischen Feststellung für bereits unwirksame weltanschauliche Motivationen.

Um beim marxistischen Bild zu bleiben, bietet sich heute das Leben und Wirken sozialpolitischer Bewegungen und Parteien in Österreich als jenes von Basisinstitutionen ohne geistigen Überbau dar. Wie schwach die geistigen Bewegungskräfte geworden sind, läßt sich abschließend an zwei Beispielen illustrieren: Der österreichische Bundeskanzler mußte der katholischen Kirche gewisse Avancen machen und zugeben, daß sie derzeit gesellschaftlich unentbehrliche Initiativen auf dem Gebiete der Entwicklungshilfe zu unternehmen vermöge, wogegen die politischen Kräfte nicht diesen Einfluß auf die Bevölkerung hätten. Was ist tatsächlich aus der Idee einer sozialdemokratischen Friedensarbeit geworden? Dabei wollen wir katholischerseits uns keineswegs einer besonderen Effizienz auf dam Gebiete der internationalen Verantwortung, der Entwicklungshilfe to Kampf gegen Hunger und Not und der Friedens- arbeit rühmen.

Ein anderes Kapitel ist die Familie. Hier wiederum muß man der alten sozialistischen Arbeiterbewegung den Vorwurf machen, daß sie noch zur Zeit ihrer geistigen Höhe die Bedeutung der Familie als Kernge- meinschaft eher’ gering gteachtet ilfld “ ‘-i tat riegncvizans MtohsV rtöfch’e ; ihr zuwider gehandelt hat. Familien- bewegung und Familienpolitik zählen sicherlich zu den positiven Seiten der heutigen , katholischen So- zialbewegung. Eine geistige Erneuerung des sozialen Lebens vor allem breiter Volksschichten wird aber stehen und fallen mit der Entwicklung einer selbstbewußten Faimilien- kultur, die keineswegs die Hochschulbildung beider Eltern zur Voraussetzung hat. Hier echt menschliche Werte fördern und aufbauen zu helfen, hier eine famiilienbetonte Wohnungispolitik, die durch umfassende gesellschaftliche Absicherung auch das Heim wieder zu einem Zentrum der Begegnung und der Kultur im kleinen Kreis und Umkreis der Familie macht — hierin läge ein weites Feld der Aufgaben. Wir haben keine Zeit zu verlieren, um. einen geistigen Umbruch, woher immer er kommen mag, in die Wege zu leiten. Wir sollten alle dabei zusammenhelfen. Eine Fristenlösung ist kein Ansatz dazu, sie sollte den Tiefpunkt im Abgleiten nach unten, žum Ungeist, markieren, rioin “scg vorteaW rntmoA tuusiab

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