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Was ein Ungar wert ist...

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Seltsames, Unklares, Undurchdringliches begab sich an Österreichs Grenze. Diesseits der österreichischen Grenze, dort, wo Österreich vor einem Menschenalter noch nicht österreichisch war, dort, wo Österreich allmählich immer ungarischer wird. Wer weiß, ob man jemals genau wissen wird, was sich da eigentlich begeben hat. Es geht um die nicht ganz freiwillige Rückkehr eines ungarischen Touristen in sein Land. Es geht um den Grad der Un-freiwilligkeit. Und um die damit zusammenhängenden staatspolitischen Konsequenzen. Vor allem um diese.

Der Nebel um die mehr oder weniger unfreiwillige Heimkehr des Ungarn Bela Steier (zumindest soll er so oder so ähnlich heißen) ist sehr dicht. Was liegt vor? Einer ungarischen Reisegesellschaft fehlte, als sie zur Heimkehr aufbrach, ein Mann. Er tauchte erst auf, als der Autobus fort war. Er hatte ihn, wiewohl er angetrunken gewesen sein soll, keinesfalls unabsichtlich verpaßt. Einige Burgenländer „halfen“ ihm, den verpaßten Autobus doch noch zu erreichen, indem sie ihn in einen VW-Bus verfrachteten und der Gesellschaft nachfuhren. Sie holten die übrigen Ungarn noch vor der Grenze ein, wo der Ungar vom VW- in den Reisebus umstieg oder umgestiegen wurde. Als der Bus die Grenze passierte, herrschte in seinem Inneren Ruhe. Der Grenzübertritt vollzog sich reibungslos.

Alles übrige ist vage, ist Gerücht, ist Verdacht, soweit nicht Inhalt eines staatsanwaltschaftlichen Aktes, der sich in diesem Stadium der Affäre jeder öffentlichen Erörterung

entzieht. Und das ist gut so. Vorgefaßte Meinungen waren der Wahrheitssuche von Richtern, die ja auch nur Menschen sind, noch niemals dienlich. Was die Öffentlichkeit unabhängig von der juristischen Seite der Causa interessiert und interessieren muß, ist der Schatten, der aus Oberpullendorf auf Österreichs Asylrecht fällt.

Denn die Mitglieder der ungarischen Reisegesellschaft, die da ohne den plötzlich verschwundenen Mann nach Hause aufbrechen mußten, waren für die Ober- und Mitterpul-lendorfer keineswegs Fremde. Man unterhielt vielmehr eine rege Fußballfreundschaft. Und die guten Oberpullendorfer, die den — nach Abfahrt des Autobusses vom Gasthaus Putz — plötzlich aus einem Getreidefeld auftauchenden Ungarn kurzerhand in einen Wagen verfrachteten, um ihn seinen Mitfahrern zurückzustellen, waren kurze Zeit später ihrerseits Gäste in Ungarn, wo sie dem Vernehmen nach für ihr braves Verhalten gefeiert wurden. (Als die Österreicher zur Heimkehr rüsteten, fehlte keiner.)

Was den einen als handfester Bruch des Asylrechtes erscheint, wird von den anderen, den Betroffenen, als „b'soffene G'schicht“ und als „Dummheit“ hingestellt — hinter solchen Wörtern die Realität zu suchen, wird keine leichte Aufgabe sein. Die Suche muß aber stattfinden. Sie wird unter dem alphaften Druck einer Grenze stehen, die zwar für Fußballbruderschaften, nicht aber für eine gerichtliche Wahrheitssuche durchdringlich ist. Denn das Opfer der vermutlichen oder

vermeintlichen strafbaren Handlung, über deren Vorliegen das Gericht zu entscheiden haben wird, ist zwar am Leben, kann aber trotzdem von keiner österreichischen Behörde befragt werden.

Eines war der Vorfall bestimmt nicht: ein Fehltritt von ÖVP-Jugendlichen. Das burgenländische SPÖ-Organ hat die Geschichte in dieser Richtung stilisiert und sich damit nicht nur ein hartes Eigentor geschossen (weil nämlich auch eigene Parteigänger beteiligt waren), sondern auch ein Meisterstück in der Kunst der politischen Brunnenvergiftung geliefert. Mag sein, daß dieses, milde ausgedrückt, journalistische Bubenstück Kirchschläger ein paar Stimmen mehr eingetragen hat. Im Wahlkampf sind ja bekanntlich die kurzen Beine der Lügen oft lang genug.

Und eines ist dieser Vorfall bestimmt: Ein Alarmzeichen dafür, was die „menschliche Entspannung“ an einer nach wie vor nicht sehr menschlichen Grenze an Verheerungen in grenznahen und menschlich entspannten Gehirnen anzurichten in der Lage ist. Derlei Vorfälle kommen selten allein. Da der vorliegende erst durch das Gerede der Leute — und ziemlich spät — der Exekutive zu Ohren kam, ist es nicht ausgeschlossen, daß derlei schon früher stattgefunden hat. Und noch weniger ausgeschlossen, daß es sich wiederholt — wenn nichts dagegen geschieht, wenn man Menschen an Grenzen wie dieser nicht klarmacht, wo die Opportunität und der Opportunismus (oder auch die Bereitschaft, zurückbleibenden Reisenden beim Erreichen ihrer Autobusse zu „helfen“), zu enden haben.

Die Alternative wäre ungemütlich. Sie würde nicht nur eine äußerst gefährliche Beschneidung des österreichischen Asylrechts, sozusagen grenznahe Selbstjustiz als erste Instanz im Verfahren der Asylgewährung bedeuten. Es könnte hier auch ein Übergangsgebiet entstehen, in dem die ungarischen Bestimmungen natürlich noch nicht, aber die österreichischen auch nicht mehr so ganz gelten — ein grauer Bereich, ein staatsrechtliches Vakuum, das sehr bald auch zum Tummelfeld ungarischer Vertrauensleute mit allen möglichen dubiosen Aufgaben werden könnte. Ob es nicht schon dazu geworden ist oder im Begriffe steht, es zu werden, dieser Frage sollte die Staatspolizei lieber heute als morgen nachgehen.

Die Affäre wird, soweit klärbar, vor Gericht geklärt werden. Muß in öffentlicher Verhandlung geklärt werden. Bis dahin (und vielleicht auch später) bleibt ein schaler Geschmack.

Ein schaler Geschmack, der durch die Äußerung eines von denen, deren Verhalten zu klären sein wird, verstärkt wurde und der auch dann bleiben wird, wenn das Verhalten des betreffenden Mannes vom Gerichte für untadelig befunden werden sollte. Oder gerade dann.

Empört ob der Tatsache, daß die Presse in der genannten Sache „Lügen verbreitet“, aber keineswegs bereit, zu sagen, worin diese „Lügen“ bestanden, sagte er: „Wer ist mehr wert in diesem Staat — ein Ungar oder mehrere unbescholtene, steuer-zahlende österreichische Staatsbürger?“

Wenn nach dem Wert eines Menschen gefragt wird, ist es mit dem Empfinden für den Wert eines Menschen nicht mehr weit her.

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