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Was Hänschen nicht lernte ...

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Lassen Gedächtnis und Lernfähigkeit zwangsläufig mit zunehmendem Alter nach? Neuere Forschungen auf diesem Gebiet lieferten zum Teil erstaunliche Ergebnisse.

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Lassen Gedächtnis und Lernfähigkeit zwangsläufig mit zunehmendem Alter nach? Neuere Forschungen auf diesem Gebiet lieferten zum Teil erstaunliche Ergebnisse.

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Die weitverbreitete Vorstellung, die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses nehme nach Erreichen des dritten Lebensjahrzehntes automatisch ab, gilt in Wissenschafterkreisen nicht uneingeschränkt. Univ.-Prof. Richard Olechowski, Ordinarius am Wiener Institut für Pädagogik, der einschlägige Forschungen auch im deutschen Sprachraum eingeleitet hat, lehnt es überhaupt ab, generell von einer Abnahme der Gedächtnisleistung zu sprechen: „Das menschliehe Gedächtnis verändert sich mit zunehmendem Alter, aber es verschlechtert sich nicht notwendigerweise."

Diese Formulierung ist kein bloßer Euphemismus, sondern die Zusammenfassung von Ergebnissen zahlreicher Experimente. Die Frage nach der Vitalität des menschlichen Gedächtnisses ist für Mediziner und Pädagogen aktueller denn je. Bemühungen um die Erwachsenenbildung veranschaulichen, daß man Hans durchaus zutraut, zu lernen, was er als Hänschen verabsäumte.

Altern, das bedeutet für den Mediziner, daß das Hirngewicht, die Zahl der Ganglienzellen der Großhirnrinde, des Kleinhirns (für die Koordination der Muskelbewegungen zuständig) und des peripheren Nervensystems abnehmen und Strukturveränderungen innerhalb von Ganglienzellen, im Gewebe und im Rük-kenmark stattfinden - und zwar durchschnittlich ab dem vierten Lebensjahrzehnt. Zu diesen organischen Faktoren kommen aber auch psychische, die stark von der individuellen Lebensgeschichte abhängen.

Leider beeinflußt der organische Befund nicht selten das Bild, das sich Laien von der Gedächtnisleistung alter Menschen bietet. Olechowski nennt insbesondere die Einschränkung des Hör- und Sehvermögens sowie die Verringerung von Reaktions- und Schreibgeschwindigkeit. Auch die verminderte Leistungsmotivation ist eine Fehlerquelle: Erwachsene stehen zumeist in festen beruflichen und familiären Bahnen und nehmen Neues oder Branchenfremdes im allgemeinen nicht mit der Begeisterung eines Jüngeren auf, der noch am Beginn seiner Karriere steht.

Schon 1928 beobachtete der Verhaltenspsychologe Thorndike, daß Fünfzigjährige dasselbe lernen können wie Zwanzigjährige, wenn man ihnen Zeit gibt. Ältere Personen arbeiten langsamer als jüngere, dafür jedoch viel sorgfältiger. Am schlechtesten schneiden dabei die Dreißigjährigen ab: Sie sind nicht mehr schnell, aber auch noch nicht genau. Ältere Menschen haben auch größere Schwierigkeiten mit dem mechanischen Lernen, d. h. mit dem Lernen von Material, dessen Zusammenhang mit anderen Inhalten ihnen nicht klar ist.

In rezenten Versuchen fanden Berliner Wissenschafter außerdem heraus, daß bei Personen, die das 60. Lebensjahr überschritten haben, Merkstoff aus zunächst nicht zu bestimmenden Gründen weniger mit bildhaften Eindrük-ken verbunden wird als bei jüngeren. Der Grad der visuellen Speicherung scheint aber eine wichtige Rolle für das Erinnerungsvermögen zu spielen.

Die Tatsache, daß sich ältere Menschen Neues nicht merken, sich aber an Details aus ihrer Jugendzeit klar erinnern, hat hingegen mit der Problematik oft nur vordergründig zu tun. Olechowski dazu: .Ältere Leute prägen sich nicht generell ein, was früher war, sondern was sie früher schon einmal reproduziert haben."

Als Gedächtnissubstanz gelten die Moleküle der Ribonukleinsäure (RNS), deren Struktur innerhalb einer Nervenzelle sich bei erfolgten Einprägungsvorgängen ändert. RNS-Verabreichung führt zu einer besseren Gedächtnisleistung, allerdings nur für die Dauer der Medikation.

Die wirkungsvollste Beeinflussung altersbedingter Gedächtnisveränderungen liegt in der rechtzeitigen und ständigen Aktivierung der geistigen Fähigkeiten. Viele Menschen verlieren jedoch bald das Vertrauen in ihre geistigen Fähigkeiten und setzen, indem sie sich auf Routinearbeiten beschränken, erst recht einen Gedächtnisverfall in Gang.

Ständiges Training kann nicht nur das lange Behalten von einmal erworbenem Wissen bewirken, sondern auch die geistigen Funktionen selbst fördern. So erhöhen Personen, die sich viel mit Fremdsprachen befassen, progressiv ihre Fähigkeit, sich Vokabel zu merken (Kinder haben nur Vorteile bei der Erlernung der richtigen Aussprache). Wortschatz und Allgemeinwissen erreichen ihren Höhepunkt sogar erst in vorgerücktem Alter.

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