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Was hat Mao gesagt?

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Die erste große ideologische Manifestation der neuen chinesischen Führung hat stattgefunden: in langen Schlangen drängen sich die Menschen vor den Buchhandlungen, um Bahd V von Mao Tse-Tungs Gesammelten Werken zu kaufen. Wie viele andere Ereignisse primär politischer Natur, findet auch dieses unter den Aspekten eines Volksfestes statt: die Lastwagen, die den Büchertransport besorgen, sind fahnengeschmückt; als Begleitmusik zum ersten Verkaufstag, den 15. April, gab es das gebührende Feuerwerk.

15 Millionen Bände wurden bisher in Peking und in den Provinzen simultan gedruckt; insgesamt sollen es über 200 Millionen werden, nicht gerechnet die Übersetzungen in Fremdsprachen oder in die Braille-Blindenschrift

Eine Direktive des Zentralkomitees spricht von einer „Massenbewegung“ zum Studium der neuen Texte, die ausdrücklich gegen die im Herbst 1976 abgesetzte „Quadriga“, im Journalistenjargon meist „Viererbande“ genannt, gerichtet sein soll. Eine Notiz des Herausgebers legt dar, daß der Kampf gegen die Vier zu den Kämpfen gehört, in denen Mao Partei und Volk führte - eine These, die der Korrespondent von Le Monde „historique- ment un peu audacieuse“ nennt.

Die neue Mao-Ausgabe, die von einem eigenen Komitee unter Leitung des Staatschefs Hua Kuo Feng ausgearbeitet wurde, umfaßt die Periode von 1949 bis 1957, also die Zeit vor der Kulturrevolution, und zeigt einen pragmatischen, subtilen, auch harten Mao Tse-Tung (von den 70 Texten wurden 46 noch nie offiziell in Peking veröffentlicht). Also jenen Mao, an den auch die neue Regierung anknüpfen will, ein Mao nicht der Extreme, sondern der Mitte; die Interpretation der neuen Auswahl geschieht vor allem von den Auslassungen her. So fehlen alle damaligen Reden über die Freundschaft zur UdSSR (etwa die vom 10. März, zu Stalins Tod, betitelt „Die größte Freundschaft“), aber auch jene von den „Hundert Blumen“, die zum Signal einer Liberalisierungsperiode wurde. Betont werden dagegen jene Texte, in denen Mao der Industrialisierung, der Wirtschaft insgesamt einen wichtigen Platz im Entwicklungsprogramm für China einräumt - im Gegensatz zur späteren These, wichtig und wesentlich sei allein der Klassenkampf.

So wird ein Mao ausgegraben, der dem Konzept des jetzigen Regimes entspricht, in dem ebenfalls die Priorität der Wirtschaft betont wird, sogar mit Hilfe ausländischer Kredite.

Das Umdenken für die Chinesen muß nach fast zwanzigjähriger anderslautender Indoktrination einigermaßen überraschend und unerwartet sein - andersei’gibt ‘äs so etwas wie ein Erwachen. Auf Wandzeitungen in Schanghai sahen Reisende die Forderung nach mehr Nahrungsmitteln - bis dato ein unantastbares Tabu. Auch Ansätze zur Kritik an der Situation nach 1965 erscheinen auf den „Ta Tse Bao“ - ein Verfasser berichtet beispielsweise von seiner Zwangsinternierung in eine psychiatrische Klinik. Die große Wandzeitungskampagne vom Jänner, die eine Rückkehr des ebenfalls pragmatischen Teng Hsiao Ping verlangte, zeigt ebenfalls, daß die Chinesen nicht ganz in Lethargie versunken sind.

Immerhin ist es erklärte Absicht der Regierung, die schon im ersten Leitartikel nach Hua Kuo Fengs Machtübernahme veröffentlicht wurde, „Willenseinigkeit, und für jeden einen

Geisteszustand aus Zufriedenheit und Schwung“ anzustreben (was ebenfalls ein Mao-Zitat aus frühen Zeiten, nämlich aus dem Jahre 1957 ist).

Um dies zu erreichen, braucht China vor allem einen Aufschwung der Wirtschaft, was neuestens auch zugegeben wird: Hua Kuo Feng will den Lebensstandard des einzelnen heben, der rudimentär ist (so trinken Chinesen seit Jahrhunderten heißes Wasser, nicht Tee), er muß auch die Investitionen heben, dies alles mit denkbar kleinem Spielraum, ist doch das Vorjahr mit seinen Polit- und Naturkatastrophen weit hinter den Planzahlen zurückgeblieben.

Hua Kuo Feng greift autoritär durch - die Streiks am wichtigen Eisenbahnknoten Tscheng Tschou wurden vom Militär gebrochen. Aber auch in die Schulen kehrt Disziplin ein: sogar Prüfungen wurden wieder eingeführt. Auch in der Armee tauchen vergessene Schlagworte wie Gehorsam, Haltung, Ergebenheit auf.

Im Alltag äußert sich dieser Wille zur

Ordnung auf allen, politischen wie administrativen Ebenen auf höchst skurrile Weise. So gab es in Wuhan offizielle Plakate mit der Unterschrift der lokalen Parteiorganisation, in denen die Autobusbenützer aufgefordert wurden, sich an den Haltestellen in Schlangen anzustellen - und die Buslenker dazu aufgefordert wurden, an den Haltestellen zu halten.

Diese Details lassen erkennen, vor welch enormen Problemen die neuen Machthaber stehen, sie erklären, warum Ordnung ihre vordringlichste selbstgestellte Aufgabe ist. Denn eine gute Regierung muß in China zweierlei leisten: das Volk vor dem Hunger bewahren und ihm gute Schlagworte liefern, nach denen es leben kann. Beides versucht Hua Kuo Feng, und er ist damit sichtlich so beschäftigt, daß er kaum für anderes Zeit hat. So ist beispielsweise die Partei seit seiner Machtübernahme vor einem halben Jahr noch nie zusammengetreten; die „Viererbande“, in sämtlichen Massenmedien ständig verteufelt, wurde noch nicht einmal offiziell aus dem Politbüro ausgeschlossen.

Dazu kommt, daß eindeutige Anzeichen auf schwere Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Führungsspitze schließen lassen. Allseits wurde fü r Anfang April (ein Jahr nach seinem Verschwinden in der politischen Versenkung) mit der Rehabilitierung Teng Hsiao Pings gerechnet; man hörte von Vorbereitungen zu einem großen Fest. Die Parteispitze tagte in dieser Causa zwei Wochen lang, ohne nachher jedoch Beschlüsse bekanntzugeben. Nur von Beschleunigung der Produktion und stärkerer Inanspruchnahme ausländischer Kredite war offiziell die Rede.

Tatsächlich sieht sich Hua Kuo Feng zwei Arten von Apparatschiki gegenüber, die beide für die Durchführung seiner Pläne (soweit man diese überhaupt kennt) vollkommen ungeeignet sind: einerseits die Leute aus der Zeit der Befreiung, die Alte Garde, die für schwungvolle Aktionen aus Altersgründen nicht mehr zu haben ist und außerdem den Status quo als gar nicht so schlecht ansieht - anderseits die „Jungen“, aus der Kulturrevolution Gewachsenen, deren Ideologie jetzt eine Wendung um 180 Grad machen soll; die notwendig daraus entstehende Verunsicherung ist ebenfalls für verantwortliche Entscheidungen nicht gerade der beste Boden.

So erklärt sich vielleicht auch, weshalb die Diskussion um die Viererbande nach wie vor keine wie immer gearteten ideologischen oder theoretischen Aspekte enthält: es wird geschimpft, aber von Analyse kann keine Rede sein.

Und auch die relativ laxe Behandlung der Anhänger jener verfemten Viererbande läßt darauf schließen, daß Hua Kuo Feng die Konsequenzen der Krise in Grenzen zu halten sucht. Sechs Monate nach dem Fall der „Viererbande“ hat also das Regime noch große Schwierigkeiten, seine Stabüi- tät und jene des Landes zu sichern.

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