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Was heißt „Deutsch“?

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Wieder einmal streitet man in Bonn und Umgebung um Sinn und Grenzen des Begriffs „Deutsch“. Selbstverständlich ist auch das „andere Deutschland“ jenseits des noch immer bestehenden, in jüngster Zeit sogar weiter verfestigten Eisernen Vorhangs an der Auseinandersetzung beteiligt, nur mit dem Unterschied, daß man es dort genau zu wissen meint und keine abweichenden Ansichten aufkommen läßt. Wieder einmal— ja, es ist ein alter Streit, und wenn man seinen Anfang in die Zeit der großen Auseinandersetzung um die „deutsche Frage“ zwischen 1848 und 1866 oder auch zwischen 1806 und 1866 verlegt, ist man eigentlich noch lange nicht bis auf den Boden dieses großen Fasses voll philologischer, volkskundlicher und staatspolitischer Streitfragen vorgedrungen. Denn im Grunde fängt es damit an, daß nicht einmal Einigkeit darüber besteht, was das Wort „deutsch“ wirklich bedeutet und warum es seit dem zehnten Jahrhundert für die im ostfränkischen Königreich vereinigten Stämme angewendet wurde. Die frühere Deutung, daß es einfach volklich, volkstümlich heißt (etwa wie das slawische lid, lud, das mit „Leute“ zusammenhängt), hat sich als nicht haltbar erwiesen. Aber auch die geistvolle Auslegung, die Eugen Rosenstock-Huessy (in seiner Schrift „Deutsch-Land — Frank-Reich“) dem Begriff gegeben hat, ist nicht allgemein akzeptiert worden, obwohl sehr viele Gründe für die Auffassung dieses genialen Rechtshistorikers und Geschichtstheologen sprechen.

Deutsch — so Rosenstock — sei die fränkische Amts- und Heeressprache gewesen, die den aus verschiedenen Stämmen zusammengesetzten Heerbann sprachlich zusammenhielt wie — er gebraucht diesen Vergleich — die deutsche Kommandosprache der alten k. u. k. Monarchie die elf Nationen, die in diesem ehrwürdigen Heere dienten.

Die Deutschen, seit dem Eindringen der Rousseauschen und der jakobinischen Ideen in das philosophische Denken und in die Gedankenlosigkeit der Massen, mit ihrem alten Nationsbegriff der im Reiche vereinigten Stämme und Vaterländer unzufrieden, begannen nach dem Untergang des alten Reiches darüber zu streiten, was „des Deutschen Vaterland“ sei, und der grimme Ernst Moritz Arndt, einer der Erzväter des deutschen Nationalismus, verkündete: „Das ganze Deutschland muß es sein“ („Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“, wie Hoffmann von Fallersleben die Diskussion fortsetzte). Aber nur als ein Staatenbund hätte es diesen Anspruch erfüllen können. Und da die Deutschen oder mindestens der stärkere, in militärischem Sinn stärkere, Teil der Deutschen um jeden Preis in einem nationalen Einheitsstaat leben wollte, blieb nur übrig, auf jenes ganze Großdeutschland zu verzichten und ein nationalstaatlich geeintes Kleindeutschland zu gründen, wie es 1866 geschah.

Und damit begann bereits der Streit darum, ob das 1871 proklamierte Deutsche Reich zugleich Deutschland oder ob Deutschland eben nicht größer sei und auch die Deutschösterreicher einschließe, wie ein Teil von diesen behauptete. Gewiß, die deutsche Sprache wurde zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, dem Gotthardpaß und Luxemburg auch außerhalb des Pseudoreiches gesprochen, aber war nun alles Land, wo man deutsch sprach, Deutschland? War Kanada Frankreich, Australien England? Interessant ist, daß sich das Preußisch-Norddeutsche in Tonfall und anderen sprachlichen Eigenarten keineswegs sofort als deutsche Hochsprache durchsetzte. In seiner Studie über den deutschen Charakter schrieb Willy Hellpach, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sei das vornehme Wienerisch der österreichischen Oberschicht die herrschende deutsche Hochsprache gewesen. Übrigens sprach zum Beispiel noch Wilhelm II. keineswegs das schnoddrige Deutsch von Berlin-W. Der erste und vollends der zweite Weltkrieg haben mit dem Einbruch der Landsersprache und des Ami-Kauderwelsch dann geradezu verheerend gewirkt. Heute hört man im deutschen Süden mehr berlinerische Laute als ehedem auf dem „Ku-Damm“, und zu dem Sächsischen ist das Rheinpreußische gekommen. Aber nicht darum geht es im neuesten Streit um Deutschland und den Begriff Deutsch, sondern um die Frage, ob man im Zeichen des Entspannungskurses zwischen Bonn und Pankow nicht von Deutsch und von Deutschland sprechen dürfe, wenn man, wie es drüben heißt, die „deutsche Bundesrepublik“ oder die „westdeutsche Bundesrepublik“, deutlicher gesagt, das „imperialistische, kapitalistische, militaristische“ Deutschland meint, denn das wirkliche Deutschland, das ist ja natürlich das „demokratische“ Deutschland zwischen Werra und Oder. Die CDU/CSU meint beobachtet zu haben, daß im Sprachgebrauch der sozialistischen Bundesregierung, insbesondere des früheren „gesamtdeutschen“, jetzigen Ministeriums „für innerdeutsche Beziehungen“ neuerdings immer häufiger als Pendant zu DDR die Chiffre BRD und andere in Pankow obligate Bezeichnungen gebraucht werden, daß der Ausdruck Deutschland verschwindet und man bei allen gelegentlichen Versicherungen, daß es sich um eine innerdeutsche Annäherung handle, eher die innerdeutsche Abgrenzung fördert, die das unabdingbare Ziel des Satellitenregimes von Ostberlin ist. Natürlich dementiert die Bundesregierung, aber was alles hätte sie nicht seit dem Beginn der „Friedenspolitik“ dementiert! Es besteht trotz allem der Verdacht, daß auch hier wieder mündliche Zusagen oder Geheimprotokolle vorliegen, daß Egon Bahr seinem Verhandlungspartner Kohl — denn über etwas müssen sie bei den stundenlangen Zusammenkünften wohl sprechen! — längst beschwichtigend zugestanden hat, man werde den Sprachgebrauch langsam den strengeren Bräuchen Pankows anpassen, nur gehe es nicht so schnell, weil „die Brijhder am Rhein“ es nicht merken sollen.

Das Tragikomische an dem Gerangel ist, daß die konsequenten und härteren Mitteldeutschen natürlich im Recht sind. Sie lehnen es ab, das artistische Kunststück Willy Brandts nachzuahmen, der zwischen dem gesamtdeutschen und dem westdeutschen Stuhl auf dem Thron des Friedenspreisträgers Platz nimmt, und halten es mit Lassalle, der den Beginn jeder politischen Aktion darin sah, „auszusprechen, was ist“. Man kann nicht einen zweiten deutschen Staat anerkennen, nicht diesem zweiten deutschen Staat die völkerrechtliche Anerkennung augenzwinkernd für das nächste oder übernächste Mal in Aussicht stellen, und zugleich an der Fiktion festhalten, es gebe nur ein Deutschland und in ihm die von der anderen Seite grob abgelehnten „innerdeutschen Beziehungen“.

Die Genossen vom rechten Elbeufer gehen sogar noch weiter. Sie bestreiten auch, daß es eine gemeinsame deutsche Sprache gebe. Und auch darin haben sie — leider — recht. Nicht nur, daß in die Funktionärssprache der DDR bereits Hunderte von Ausdrücken eingedrungen sind, die man im Westen — vorläufig — nur als Fremdworte zitiert, und daß die westdeutsche Sprache von Amerikanismen verschandelt ist, es läßt sich auch nicht bestreiten, daß die im politischen Verkehr so häufig gebrauchten Worte Frieden, Freiheit, Krieg, Recht, Gespräch, Verhandlung, Annäherung usw. im Westdeutschen eine völlig andere Bedeutung haben als in dem Deutschland jenseits des Minengürtels und der Berliner Mauer. Und wenn es morgen den Machthabern in Ostberlin einfällt, die kyrillische Schrift einzuführen, wird Bonn es auch nicht ändern können. Daß die Probleme von Muttersprache, Nationalgefühl und Staatsbewußtsein viel schwerer zu verstehen sind und auch weit schwerer wiegen, als sich die Stammtischpolitiker vorstellen, kann man immer wieder an dem serbischkroatischen Problem feststellen. Am deutschen wird es sich in zunehmendem Maße auch erweisen.

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