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„… Was ich erblicke, ist’s ein Wahn…?“

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Sie ist jung, schön und sensibel, einziges Kind eines wohlhabenden Vaters, der ihr den fremden, reichen Reeder zum Mann bestimmt hat. Eine sorglose Zukunft erwartet sie, die sie nicht genießen wird, da sie sich einem Phantom zuliebe ekstatisch und konsequent in den Selbstmord hineinsteigert. Denn sie ist wahnsinnig. Ihr Name: Senta Daland.

Als Richard Wagner sich 1838 in Heines „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski“ vertiefte, wurde für ihn die Ballade der Senta zum Mittelpunkt seiner neuen Oper. „Ich entsinne mich, noch ehe ich zu der Aufführung des Fliegenden Holländers schritt, zuerst die Ballade der Senta im zweiten Akt entworfen und in Vers und Melodie ausgeführt zu haben; in diesem Stücke legte ich unbewußt den Keim zu der ganzen Musik der Oper nieder; es war das verdichtete Bild des ganzen Dramas, wie es vor meiner Seele stand. Und als ich die fertige Arbeit betiteln sollte, hatte ich nicht übel Lust, sie eine ,dramatische Ballade’ zu nennen.“

Von diesem Kernstück ausgehend konzipierte Wagner das ganze Werk. Auch der Dresdner Regisseur Kupfer tut es und nimmt Wagner wörtlich. Seine Senta verläßt die Bühne keinen Augenblick, mischt sich in den realen Szenen ins Spielgeschehen und flüchtet in den somnambulen auf ein seitliches Gerüst, von dem aus sie die Vorgänge auf der Bühne beobachtet, ja, heraufbeschwört und lenkt. Halb Lorelei, an deren Felsen die Schiffe - wenn schon nicht scheitern, so doch stranden -, halb Traumwandlerin. So ist „ihr“ Holländer die Inkarnation eines Bildes, das gleich zu Beginn des szenisch ausgedeuteten Vorspiels von der Wand fällt. Sie umklammert es, gibt’s bis zu ihrem Selbstmord nicht mehr frei. Der riesige Schiffsbug, von zwei schwarzen Händen umklammert, ist ihr gleichzeitig Schale des Bösen und Mutterschoß, verwandelt sich in ihrer Phantasie in einen Zaubergarten, in dem sie - wollüstig hineingezogen - zu ertrinken begehrt. Der reale holländische Kapitän, ein harmloser Reisender, den ihr der Vater zuführt, weicht entsetzt vor der schönen Wahnsinnigen zurück. Trotzdem sieht sie sich an einer Hochzeitstafel als Braut, umgeben von fahlen Gestalten mit gläsernen Masken - gestorbenen, gesichtslosen Bürgern der Stadt. Durch einen Sprung aus dem Fenster entzieht sie sich dem flehentlichen Liebeswerben des Jugendfreundes Erik, der in der verständnislosen Menge entsetzter Gaffer sie als einziger ehrlich betrauert.

Kupfer und sein Bühnenbildner Peter Sykora wählten die Urfassung des Werkes, ohne Aktschlüsse, ohne Erlö sungsgedanken, konstruierten mit faszinierender Konsequenz, die leider nicht frei von geschmäcklerischem Kitsch und Stilbrüchen ist, effektsicheres Theater. Für die realen Szenen schafft der Regisseur den abgeschlossenen Raum der düsteren Spinnstube mit ältlichen, mausgrau gekleideten frustrierten Weibern.

Diese Senta, Lisbeth Baislev, eine junge Dänin mit weicher, lyrisch-ausdrucksstarker Stimme ohne letzte dramatische Durchschlagskraft, dominiert vor allem in ihrem irren, stumm lachenden, lautlos flüsternden marionettenhaften Spiel die Bühne. Simon Estes’ metallischer Bariton, hervorragend wortverständlich, beherrscht alle Register mitleiderregender Anklage und Verzweiflung, nach dem Willen des Regisseurs nicht frei von rassenproblematischen Anspielungen. Der eigenwillige Dirigent Dennis Rüssel Davies präsentierte das Vorspiel flüchtig und die Ballade betont liedhaft undramatisch, vergröberte stellenweise Wagners natursymbolhafte Poetik zu simpler Geräuschkulisse und fand erst im 3. Akt zu adäquater, ausgeglichener musikalischer Sprache.

In der Frage zur Neudeutung der Werkauslegung im zeitbezogenen Sinn ist sich Kupfer seiner Verantwortung gegenüber dem Autor wohl bewußt und bekennt sich auf diesem schmalen Grat durchaus zu allfälligen Irrtümern. Diese Ehrlichkeit gewinnt ihm in seiner umstrittenen, letztlich durchaus gelungenen Leistung Achtung und Sympathien.

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