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„Was ich in keiner Zeitung fand“

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Ich lese täglich schweizerische, österreichische, deutsche, amerikanische, französische und englische Zeitungen. Und doch gibt es gewisse Dinge, die ich in keiner finde.

Zum Beispiel die Erklärung für das Vietnamdebakel.

Zwar ist eine Menge über den Krieg in Vietnam geschrieben worden, und es gibt wohl kaum einen Tag, an dem nicht noch mehr geschrieben wird.

Aber es ist zum Beispiel nie geschrieben worden, warum der Krieg so lange dauert. Der Krieg zwischen der vermutlich militärisch stärksten Großmacht der Welt und einem kleinen und fast hilflosen Land. Bevor ich davon spreche, möchte ich etwas ausklammern — nämlich das moralische Moment. Ich will hier nicht untersuchen (das ist, weiß Gott, schon oft geschehen), ob es richtig war, diesen Krieg zu führen, moralisch, ethisch, politisch. Das mag eine Streitfrage sein.

Aber keine Streitfrage ist und bleibt die Unerklärlichkeit der Länge die-

ses Krieges. Und die miserablen Informationen, die wir seit vielen Jahren immer wieder aus Washington und insbesondere aus dem Inneren des Pentagon hinnehmen müssen.

Lügen? Bewußte Lügen? Wozu? In einer Demokratie — und die Vereinten Staaten sind eine Demokratie — haben Lügen sehr kurze Beine.

Es handelt sich also bei den Behauptungen der Verantwortlichen, der Krieg könne nur noch ganz kurze Zeit dauern — vor nunmehr fast vier Jahren las ich, er würde allenfalls noch vier bis sechs Wochen dauern — nicht um plumpe Schwindeleien.

Sondern um Unwissenheit.

Wie unglaublich es erscheint: auf der amerikanischen Seite scheint immer noch niemand genau zu wissen, wo der Krieg stattfindet, geschweige denn, gegen wen er geführt wird.

Ich denke an den Krieg der Alliier ten gegen Hitler zurück. Damals, als die Invasion bevorstand, das Jahr war 1944 — kannten die Alliierten jeden Quadratmeter Boden des von den Deutschen besetzten Gebietes, und natürlich auch jeden Quadratmeter deutschen Bodens. Sie wußten, wie viele Flugzeuge deutscherseits zur Verfügung standen, wo sie stationiert waren, mit wieviel respektive mit wie wenig Brennstoff sie auskommen mußten. Sie kannten die Namen aller wichtigen deutschen Militärs, sie kannten die Adressen wichtiger Munitionsfabriken.

Diesmal scheinen die Amerikaner überhaupt nichts zu wissen. Sie wissen lediglich, was sie nämlich schon zu Anfang hätten wissen müssen: zum Beispiel, daß der Krieg ein Dschungelkrieg ist, und daß die Nordvietnamesen zu allem entschlossen sind.

Aber sie wissen sehr vieles nicht, obwohl die Aufklärungsmittel — die Photographien aus höchster Höhe — heute viel besser sind als etwa zu Beginn der vierziger Jahre.

Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß, als einige Leute in Washington vor vielen Jahren den Entschluß faßten, in Vietnam Krieg zu führen, jemand erklärt hätte: Das geht nicht! Wir können im Dschungel mit unseren Waffen nicht ausrichten.

Unsere Soldaten können, selbst wenn sie in der Mehrzahl waren, gegen engagierte Patrioten wie die Vietnamesen keinen eindeutigen Steg erringen. Wir müßten jeden Bewohner Vietnams töten, wir müßten den Urwald abbrennen und dergleichen mehr.

Aber niemand sagte das und zwar aus dem Grund, weil niemand dieser Ansicht war. Wenn er sich aus moralischen Gründen zur Empfehlung solcher grausamen Maßnahmen nicht durchringen konnte, was nur für ihn gesprochen hätte, so wäre es von ihm verbrecherisch gewesen, nicht aufs heftigste vom Krieg abzuraten. Aber offenbar war man in Washington der Überzeugung, der Krieg könne gewonnen und relativ schnell gewonnen werden. Dummheit?

Es handelt sich doch wohl hier um nicht mehr und nicht weniger als um ein völliges Versagen der Aufklärung oder, wenn man will, der Spionage. Irgend jemand hat hier versagt, vermutlich waren es ein paar Männer, vielleicht einige Dutzend. Aber die haben gründlich versagt. Sie haben so gründlich versagt, aber sie stehen auf so bedeutenden Posten, daß ihr Versagen geheimgehalten werden darf.

Warum? Die Antwort darauf ist in keiner Zeitung zu finden.

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