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Was ist schuld an der Armut?

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Das Ansinnen, den seit September 1988 vorliegenden “Grundtext“ als Diskussionsvorbereitung für einen Sozialhirt en- briefl) der österreichischen Bischöfe kritisch zu würdigen, ist gottlob an den Wirtschaftspublizisten Horst Knapp gerichtet worden.

Als (zumindest Schmalspur-) Nationalökonom täte ich mich nämlich schwer, zu einem Text Stellung zu nehmen, der auch dort, wo er vorgibt, eine Beschreibung des Ist- Zustandes zu sein, in jeder zweiten Zeile gegen das nationalökonomische Pendant zum hippokratischen Eid der Ärzte verstößt: gegen das Gebot der Wertfreiheit von Aussagen, die als Tatbestands!eststellimg oder als logisch zwingende Konsequenz aus unstreitigen Prämissen anerkannt werden sollen.

Um das, was damit gemeint ist, gleich an einem Beispiel zu demonstrieren: der Einleitung zum Ab-

schnitt neun über die “internationale Verflechtung“:

Schon die Behauptung “Der Graben zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens wird immer größer“ würde ich, hätte ich als Nationalökonom diesen Text zu beurteilen, mit der empirisch-statistischen Evidenz konfrontieren und dann als erstes das Wort “immer“ streichen:

Selbst wenn man zu den “Ländern des Nordens“ nicht auch die - noch keineswegs reichen - Ostblockstaaten und zu den “Ländern des Südens“ nicht auch Schwellenländer zählt, die rapid aufholen, wird der Graben erst wieder seit dem Akutwerden der Verschuldungskrise größer. Vorher war, von Linken außerhalb und innerhalb der Kirche unbemerkt, der Graben viele Jahre lang kleiner geworden: Nach denDaten des Internationalen Währungsfonds war 1980 das Per-capi- ta-Sozialprodukt der Entwicklungsländer - die Erdölproduzenten unter ihnen schon abgezogen - real um 44,5 Prozent größer als 1968, das der westlichen Industrieländer nur um 32,8 Prozent.

Das, wohlgemerkt, schon umgerechnet auf den Kopf der - rasch wachsenden - Bevölkerung. Das Sozialprodukt insgesamt nimmt auch weiterhin in den Entwicklungsländern Jahr für Jahr stärker zu als in den westlichen Industrieländern: Nach einem Vorsprung von 38 Prozentpunkten im Zeitraum 1968/80 (46,3 Prozent realer Zuwachs in den Industrieländern, 84,8 Prozent in den nicht erdölproduzierenden Entwicklungsländern), legten diese bis 1986 neuerlich 26,2 Prozent zu, die westlichen Industrieländer hingegen nur 14,6 Prozent.

Wenn dennoch der “Graben zwischen den rächen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens“ seit 1980 wieder größer geworden ist, so wegen der dort ungehemmten Bevölkerungsexplosion. Das mag sich im Entwurf für einen Hirtenbrief schlecht ausmachen, aber statt dessen zu behaupten: “Diese Unterschiede sind nicht auf natürliche Ursache, sondern wesentlich auf ‘Gier nach Profit’ und ‘Verlangen nach Macht’ zurückzuführen“, ist pure marxistische Demagogie, selbst wenn sich solche Ausdrücke in eine päpstliche Enun- ziation verirrt haben sollten.

Als Wirtschaftspublizist bin ich gottlob der Aufgabe enthoben, die Diagnose auf ihre Realitätsnähe und die Therapie auf ihre Realisierbarkeit hin zu untersuchen. Der spezifische Diskussionsansatz des Publizisten kann wohl nur ein mediendidaktischer sein, also der Versuch, zwei Prägen zu beantworten:

1. Wird der Leser oder Zuhörer diesen Text verstehen Und akzeptieren?

2. Ist der Leser nachher wissender oder zumindest selbstkritischer?

Was die zweite Frage betrifft, bin ich - gerade jetzt - diesbezüglich skeptischer, aber zumindest die erste wird auch (und gerade) von Disku-

Die Kluft zur Dritten Welt: seit 1980 wieder größer (Begsteiger)

tanten als legitim erachtet werden, die diesem Grundtext positive Seiten abgewinnen können.

Hinsichtlich der ersten Frage geht es mir mediendidaktisch also darum, ob es gelingen wird, die Aussagendes Grundtextes “über die Rampe zu bringen“, wobei ich zugegebenermaßen nicht das brave Mutterl in der Dorfkirche, sondern den kritischen - im Moment vielleicht sogar überkritischen - Adressaten von Äußerungen der Amtskirche vor Augen habe.

Wenn ich mich in einen solchen hineinversetze, würde mich an diesem Grundtext zweierlei stören: der reichliche Gebrauch von großen Worten und das Konkretisierungsmanko bei vielen Behauptungen und den meisten Forderungen. Oder pointiert ausgedrückt: zu viel Pathos, zu wenig Substanz.

Mit der pathetischen Aufforderung zum Beispiel, “Strukturen der Sünde aufzubrechen“, fängt weder der Politiker, der öffentliche Handlungen, noch der “Wohlstandsbürger“, der private Handlungen zur Sicherung der Zukunft für unsere Kinder (Abschnitt zehn) setzen soll, etwas an. Sucht man dann aber nach irgendeiner Brechstange, mit der man besagten “Strukturen der Sünde“ zu Leibe rücken könnte, trifft man nur auf die - pardon - Leerformel, daß ein “tiefgreif ender Bewußtseinswandel erforderlich“ sei.

Oder ein anderes Beispiel:

“Den Garten Gottes pflegen“ ist, zugegeben, eine hübsche Metapher für die Alternative zu einer agrarischen Überproduktion. Aber anstelle der unverbindlich-nichtssagenden “Durchführungsverordnung“, es gelte “das in der Natur grundgelegte Kreislauf prinzip zuachten“, müßte als Pflegeanweisung für den Garten Gottes beispielsweise der ganz konkrete - und dann auch sachlich diskutierbare - Vorschlag folgen, zu einer Fruchtwechselwirtschaft zurückzukehren.

Hier beim (achten) Abschnitt über die Landwirtschaft drängt sich leider auch ein Vorgriff auf die zweite mediendidaktische Frage auf, nämlich auf die, ob - ganz brutal herausgesagt - beim Adressaten des Hirtenbriefes das Hirn dem Herzen einen Stoß geben soll, oder ob der gute Zweck auch das Mittel heiligt, auf das Fehlen von wirtschaftlichen Elementarkenntnissen blindzu vertrauen. Wie das mit dem Satz geschieht: “Europaweite Überproduktion führt zu niedrigen Einkommen für die Landwirte, hohen Export kosten für die Steuerzahler und hohen Lebensmittelpreisen für die Konsumenten.“

Wäre die Zurückführung von hohen Preisen auf ein zu großes Angebot nur ein weiteres Beispiel dafür, wie weit verbreitet hierzulande der ökonomische Analphabetismus ist, könnte man diesen Lapsus mit barmherzigem Schweigen übergehen.

Aber diese absurde These findet sich mitten in einem beredten - und ökonomisch wie ökologisch begrüßenswerten - Appell, der Landwirtschaft die Rückkehr zu die Natur schonenden Produktionsmethoden zu gestatten - ein Appell, der sich doch nur an die Konsumenten richten kann, aus Solidarität mit den Bauern, die - wie es ganz richtig heißt - durch die Marktverhältnisse gezwungen werden, an der Zerstörung der natürlichen Umwelt mitzuwirken, auf die durch die “industrielle Bewirts chaftung “ und die “europaweite Überproduktion“ bewirkten niedrigen Lebensmittelpreise zu verzichten.

Also beispielsweise in Kauf zu nehmen, daß das knusprige Brat- henderl wieder zu dem seltenen Festtagsschmaus wird, das es in meinen Jugendtagen gewesen war, ehe die naturwidrige Massentierhaltung und die nicht minder naturwidrigen Fütterungsmethoden die Geflügelpreise in den Keller haben sinken lassen. Doch warum in die Zwischenkriegszeit zurückblicken? Noch im Dezember 1966 hatte ein Kilo Brathuhn (30,80 Schilling) zwei Stundenlöhne eines Industriearbeiters (brutto 15,58 Schilling) gekostet; im Dezember 1987 kostete es nicht einmal mehr einen halben Stundenlohn (43 Schilling; durchschnittlicher Brut- to-Stundenverdienst 90,82 Schilling).

In Kauf zu nehmen hätten wir dann freilich auch - und dies illustriert zugleich, wie leicht es zu Solidaritätskonflikten kommen kann -, daß jene älteren und häufig auch ärmeren Mitbürger besonders zum Handkuß kämen, die aus gesundheitlichen Gründen nur die Wahl zwischen Kalbfleisch und Geflügel haben. Ende 1966 hätten sich diese Menschen noch zwischen einem Kolo Brathuhn und immerhin 39 Dekagramm Kalbsschnitzel zu entscheiden gehabt. Ende 1987 hingegen hätten sie für den Preis von einem Kilo Brathuhn nur noch genau halb so viel Kälbernes bekommen: 19,5 Dekagramm 2).

Nim zur Verständlichkeit des Textes: Mit einer einzigen Ausnahme: daß nämlich die Ausdrücke “Flexibilisierung der Arbeit“ und “flexible Arbeitsformen“, worunter im allgemeinen Sprachgebrauch der Übergang zu Gleitzeitarbeit oder die Verlängerung der Durchrechnungszeiten, also der Freizeitausgleich für Überstunden, verstanden wird, im Abschnitt vier über die Familie zur Bezeichnung für den Übergangzu starren Schichtarbeitsmodellen verfremdet werden; mit dieser einzigen Ausnahme ist dem Text ein Mangel an Verständlichkeit sicher nicht vorzuwerfen.

Eher schon das Gegenteil: die unbekümmerte Verwendung (oder sogar Erfindung; Beispiel: “Schattenarbeit“, wohl in Analogie zu “Schattenwirtschaft“) von Ohrwürmern- “kritischer Konsum“, “Recht auf Arbeit“, “Zweidrittelgesellschaft“, “gerechtere Weltwirtschaftsordnung“ und dergleichen, die so wohlklingend sind wie die Melodie von Schlagern und so nichtssagend wie deren Text.

Aber moniert wird ja hier vom Standpunkt des Wirtschaftspublizisten aus nicht das Manko an ökonomischem Sachverstand, sondern nur das Fehlen der Bereitschaft, zu wohlklingenden Forderungen auch ehrlicherweise eine Schilderung der zwangsläufigen Konsequenzen hinzuzufügen. Müßte ich daher mein Gesamturteil über den vorliegenden Grundtext für einen Sozial-Hirten- brief in der dem Publizisten angemessenen Prägnanz darstellen, würde mein Verdikt lauten: Schade um viele gute Gedanken. Sie sind in schlechte Gesellschaft geraten…

Der Autor ist Wirtschaftspublizist und Herausgeber der ‘Finanznachrichten’.

Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem Referat, gehalten am 29. April im Rahmen des Symposions der Wiener Katholischen Akademie: ‘Kritische Überlegungen zum Grundtext zur Vorbereitung eines Sozialhirtenbriefes der österreichischen Bischöfe’.

1) Ich würde sicherheitshalber einen Bindestrich setzen - Sozial-Hirtenbrief damit das Produkt nicht Gefahr läuft, von Mißliebigen als Sozial- hirten-Brief diskreditiert zu werden…

2) Preis für 1 kg Kalbsschnitzel Dezember 1966: 78,90 Schilling, Dezember 1987: 220 Schilling.

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