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Was kommt nach der modernen Literatur?

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Das Wort „modern“ dürfte in seiner gegenwärtigen Bedeutung nicht viel älter sein als hundert Jahre. Zunächst war es nichts weiter als Kennzeichnung: jener Kräfte, die den Kanon des Uberlieferten verworfen hatten und um Traditionsfreiheit kämpften. Doch sagt jemand heutzutage „modern“, fällt er in den Augen der Zeitgenossen ein Qualitätsurteil. „Modern“ gilt als etwas Besseres. Der letzte Schrei kommt uns bedeutsamer vor als der vorletzte. Das Neue wird kraft seiner Neuheit von vornherein für allem Bisherigen überlegen angesehen. Vielen ist dabei natürlich klar, daß sie mit dem Wort „modern“ nur die Zeitgemäßheit eines Künstlers oder eines Werkes ausdrücken, nicht aber einen Wert: dennoch werden sie sich dieser Einsicht nur in seltenen Momenten bewußt. Der Glaube an den Fortschritt bestimmt uns alle — sogar solche, die der festen Meinung sind, in Literatur und Kunst gäbe es keinen.

Aber was, wenn die Moderne in die Jahre kommt? Mehrere Generationen haben nun schon erlebt, wie das, was sie einmal stolz für das Fortschrittlichste ihrer Zeit hielten, von Jüngeren und im Namen eines neuen Geschmacks kailtlächelnd zum alten Eisen geworfen wurde. Und wenn sie ehrlich waren, mußten sie auch zugeben, daß die Verfechter des Allerneuesten recht hatten: dieses einst so Hochmoderne hatte im Lauf der Zeit Federn gelassen, es konnte nicht mehr mithalten mit den jetzigen Produkten an der Spitze. Wenn nicht alles täuscht, kommen wir bald wieder an einen solchen Punkt. Die Abnutzungserscheimuingen, die uns bei der modernen Literatur der sechziger Jahre auffallen, sind nicht mehr zu übersehen.

Wir meinen jetzt nicht nur die Wellen der schönen Agitations- und Sexliteratur. Nein, der allgemeine Verdruß hat auch das Subtilere erfaßt. Zum Beispiel jene gesellschaftskritische Richtung, die unsere Redensarten um und um wendet, also Gesellschaftskritik als Kritik an der Sprache versteht. Ihre Methoden sind so perfekt geworden, ihre Muster so leicht beherrschbar, daß man Heissenbüttel und Mon, Wondra-tschek und Kriwett von ihren Epigonen kaum unterscheiden kann. Nicht allein ihr Verzicht auf Fiktion, Phantasie und Spiel zugunsten einer strohtrockenen analytischen „Aufklärung“ läßt das Publikum mehr und mehr erschlaffen, auch ihre Sprache, die ja immer nur Zitatsprache ist, keine Kreativität, Kontur, bloß d6n Scharfsinn von Monteuren besitzt, ermüdet allmählich.

Und wie steht es mit der Effektivität dieser sprach- und gesellschaftskritischen Texte? Ist sie nachprüfbar? Zwar haben diese Modernen des vergangenen Jahrzehnts auf Kommunikation keinen großen Wert gelagt, sieh gegenüber jenem literarischen Vorzug, den man Lesbarkeit nennt, geradezu asketisch verhalten, aber auch sie versuchten doch, Kunst in Erkenntnis zu verwandeln, also das Bewußtsein anderer zu schärfen. Die Wirkung ihrer Bücher ist — alles in allem — eine esoterische geblieben, Kollegen haben für Kollegen geschrieben, das gesellschaftskritisch Gemeinte hat den Zirkel des Artistischen nicht verlassen. Selbst Wohlwollende verfolgen das mit Resignation.

Nicht viel anders sieht es bei den Gegenspielern aus. Spieler sind es übrigens im wörtlichen Sinn: Autoren, die keine Stellungnahme zur Welt mehr abgeben, keine Beweisstücke ihrer Einsicht oder Gesinnung liefern, sondern allein auf spielerische Spontaneität setzen. In den sechziger Jahren haben sie damit einigermaßen Furore gemacht, die Harig, Chotjewitz, Ror Wolf, Brandner samt der Wiener Schule. Aber ist das nicht alles nun schon durchgespielt: das Parodieren der Trivialformen — Comics, Pornographie, Science-fiction —, die druckgraphi-schen Gags, die leeren Seiten, die bis zu ödester Albernheit gehenden

Clownerien über die Gutenberg-Kultur? Und merkwürdig, auch sie, die es von Anfang an auf die traditionslosen Lesermassen abgesehen hatten, durch und durch „populär“ schreiben, werden vom Publikum kaum zur Kenntnis genommen. Selig ruhen sie in sich selbst.

Das Besondere daran ist, daß diese Moderne unmodern wird, ohne daß eine rücksichtslos nachdrängende literarische Jeunesse sie mit entgegengesetzten Ideen und Grundsätzen In die Flucht schlüge. Die vor allem in Amerika von sich reden machende Neoromantik hat bei unseren Aller-jüngsten noch nicht gezündet. Nein, der alternden Moderne scheint vorerst ausschließlich das Publikum den Prozeß zu machen. Wenn man heute immer wieder von Literaturmüdigkeit der Leser spricht, von der Krise der schönen Literatur, so liegen die Ursachen nicht zuletzt im Versagen jener Modernen, die es nicht verstanden haben, mit ihrem Pfund zu wuchern und die Öffentlichkeit von ihrer Modernität zu überzeugen. Diese Schriftsteller auf der Höhe der Zeit haben das mitreißende, das erlösende Wort für ihre Zeitgenossen offenbar nicht gefunden.

Was kommt nach der modernen Literatur? Wir wallen darauf keine vorschnelle Antwort geben, obwohl Prophezeien ja nichts kostet. Was die Zeit prägt, hängt immer von der Zustimmung der Jugend ab, die am

Aufbrechen ist. Wenn es wahr ist, daß sich das Moderne aus dem Widerspruch zum Modern-Gewesenen entwickelt, unbedingt das Gegenteil des bislang Vorherrschenden will, dann lassen sich freilich Schlüsse ziehen. Könnte nicht vielleicht nach so vielen Jahren der Überbewertung des Formalen, des Akrobatischen in der Literatur wieder einmal der Versuch unternommen werden, über die schlichten, grundlegenden Dinge zu sprechen — jene elementaren Erfahrungen, die — so alt sie auch sein mögen — jedem Heranwachsenden neu zu denken geben und auch in einem langen Leben eben an Bedeutung nicht verlieren?

Alexander Solschenizyn schrieb an den sowjetischen Schriftstellerverband: „Die Aufgabe des Schriftstellers besteht nicht darin, diese oder jene Methode der Verteilung des Sozialprodukts, diese oder jene Staatsform zu verteidigen oder zu kritisieren. Der Schriftsteller wählt universale und ewige Themen, die Geheimnisse des menschlichen Herzens und Gewissens, die Begegnung des Lebens mit dem Tod, die Uberwindung seelischer Schmerzen, die Gesetze der Menschlichkeit, die aus der unergründlichen Tiefe der Jahrtausende emporsteigen und erst dann verschwinden werden, wenn die Sonne verlischt.“

Sollten solche Überlegungen tatsächlich der Vergangenheit angehören, dann halte ich es für durchaus nicht unwahrscheinlich, daß auch bei uns einmal die Zukunft der Vergangenheit anbrechen wird.

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