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Was kommt nach Tito?

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Große Staatsmänner haben gemeinsam, daß mit ihrem Abtreten eine mit ihrem Namen verbundene Epoche zu Ende geht, daß die Frage nach dem Nachher die Zeitgenossen meist schon vor dem Eintritt dieses Ereignisses beschäftigt, ja meist auch, daß ihrTod ein Vakuum hinterläßt, in das vielfache, vorher kaum bestimmbare Ströme einbrechen.

Josip Broz-Tito, einst k. u. k. Korporal, Kommunistenführer und Partisanenchef des Zweiten Weltkriegs, ist - abgesehen von Enver Hoxha in Albanien - der einzige der großen Männer unserer Zeit, der seit Ende dieses Völkerringens unbehindert an der Macht steht. Er ist 84 Jahre alt - die Frage nach dem Danach ist legitim. Carl Gustaf Ströhm, Ostkorrespondent der „Welt“, sucht nach einer Antwort.

Die Frage nach dem möglichen Nachfolger ist nur ein Teil des Problems. Vier Männer stehen heute im Vordergrund, die beiden Slowenen Kardelj und Dolanc, der Kroate Bakaric, der Serbe Ljubicic. Keiner von ihnen allein besitzt die „charismatische Gestalt“ des Staatschefs - werden sie gemeinsam das Erbe verwalten können?

Drängender wird die Frage nach dem Schicksal des Titoismus ohne Tito. Jene Form des Kommunismus, die sich dem Zugriff des Großen Bruders aus Moskau entziehen konnte, die markiert ist durch die Begrife des Selbstverwaltungs-Sozialismus und der Blockfreiheit - sie steht von zwei Seiten her unter Beschuß: Im westlichen Ausland sind auch dreißig Jahre nach dem Aufbau des Titostaates noch Zellen fanatisierter Nationalisten am Werk, die auch vor Mordanschlägen und Flugzeugentführungen nicht zurückschrecken und damit die ebenso harten Gegenschläge der jugoslawischen Geheimpolizei auf sich ziehen. Und Moskau sieht auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ausscheren Belgrads aus dem Ostblock mit Mißvergnügen. auf die Tatsache, daß sich damit die strategische Basis des Sowjetreichs auf dem Balkan und damit im ganzen europäischen Südosten grundlegend verändert hat.

Daß es auch in Jugoslawien selbst noch Kräfte gibt, die „nach Tito“ ihre Blicke nach Moskau richten würden, haben zahlreiche Prozesse der jüngsten Vergangenheit bewiesen. Werden sie Oberwasser bekommen? Werden jene Konzepte Wirklichkeit werden, von denen die Zeitungen in den vergangenen Jahren immer wieder berichteten und die von Angriffsabsichten Moskaus für den Fall von Unruhen nach Titos Tod sprachen? Sie wurden jeweils von den Sowjets wie auch von den Jugoslawen als Phantasien zurückgewiesen - so phantasievoll dürften sie aber doch wohl nicht sein.

Ströhm, fundierter Kenner der jugoslawischen Szene seit vielen Jahren, ständiger Gast der Parteikongresse und Staatsbesuche, als scharfer Analytiker vom offiziellen Belgrad wie von der kroatischen Emigration jeweils als „Söldling“ des anderen verschrien, umreißt in einem umfassenden, journalistisch hervorragend geschriebenen Bild die Entwicklung des Titostaates, die speziellen Probleme der einzelnen Teilrepubliken, die Verhältnisse zu den Nachbarn - wer weiß heute noch, daß es 1945 in Laibach einen Versuch gab, mit westalliierter Hilfe ein königlich-demokratisches Rumpfjugoslawien zur Abwehr des kommunistischen Titostaates zu formieren? Erschließt nur die Frage nach dem Danach, nach dem Schicksal dieses Vielvölkerstaates ohne seinen großen Führer aus - wer fragt heute noch nach den Exzessen der Nachkriegszeit?

Auch Ströhm kann'nur analysieren, nicht prophezeien. Seine Analyse ist auf eine Unzahl von Daten und Namen aufgebaut, nach vielen Seiten hin abgesichert. (Leider fehlt ein Stichwortverzeichnis.) Welche der von ihm skizzierten Möglichkeiten wird eintreten?

„Jugoslawien wird so stabil und so sicher sein, wie es seine Einwohner selber wollen“, schreibt er abschließend. „Keine Macht der Welt wird Jugoslawien zusammenhalten können, wenn sich die zentrifugalen Kräfte als stärker erweisen. Und kaum jemand wird die jugoslawische Föderation zerstören können, wenn die Völker Jugoslawiens sie wollen.“ - Aber werden sie es wollen?

Der Westen wird sich über dieses Jugoslawien keine Illusionen machen dürfen. Es wird nach menschlichem Ermessen in absehbarer Zukunft kein Rechtsstaat im westlichen Sinn, keine freiheitliche Demokratie, nicht einmal ein liberal-autoritärer Staat sein. Vieleicht wird es nach Titos Tod zeitweise einer belagerten Festung gleichen. Aber wenn es seine Unabhängigkeit erhalten kann - und sei es sogar in bescheidenerer Form als zu Lebzeiten Titos - wäre einiges gewonnen.

Die Bewährungsprobe steht also noch bevor. Die westliche Welt kann sicher nicht entscheiden oder bestimmen, wie der Wechsel von der Tito-Ära in die Nach-Tito-Ära in Jugoslawien vonstatten geht. Aber der Westen kann den Ubergang durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen erleichtern und damit zur Stabilisierung Jugoslawiens beitragen - und zwar aus nüchternem politischen Kalkül. In den kommenden Jahren wird sich für ganz Europa das Problem der sowjetischen Hegemonie stellen. Solange Jugoslawien selbständig ist, ist auch der sowjetischen Hegemonie im südlichen Europa ein politischer und militärischer Riegel vorgeschoben. Deshalb liegt es im Interesse Europas und des ganzen Westens, wenn Jugoslawien Tito überlebt.

OHNE TITO; KANN JUGOSLA-WIEN ÜBERLEBEN? Von Carl G. Ströhm. Verlag Styria Graz-Wien-Köln 1976. 304 Seiten, öS 250.-.

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