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Was uns der Osten bringt

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Zuerst einmal, um es anschau -lieh zu formulieren, floß die Donau verkehrt. Sie hatte ihre Quelle am Schwarzen Meer, gar nicht weit von Konstantinopel, und sie floß in den Wilden Westen. Sie kam aus der Kultur, der feinen Zivilisation des byzantinischen Lebens, mühte sich durch düstere Wälder der Barbarei und mündete in ein im Geistigen „Schwarzes Meer“ der Kulturlosigkeit. Dies änderte sich lange Zeit nicht, und dann nur sehr langsam.

Übrigens erging es dem weiter westlich von uns gelegenen Europa nicht viel besser. Von den Rändern her kam die Kultur, vor allem aus Irland, wohin die Schiffe aus Oberägypten und Griechenland regelmäßig fuhren und in der fürchterlichen Epoche der sogenannten Völkerwanderung kultivierte Menschen in die regnerische, aber friedliche Idylle Irlands brachten. Die von den Kopten beeinflußten Mönche, auch Kopten selbst, verbreiteten dort eine christliche Kultur, die dann aus Irland und Schottland zu uns kam. Die Benediktiner aus Irland, „Schotten“ genannt, zählten zu den ersten, die das Christentum nach Wien und natürlich nach Melk brachten.

Die Kultur des täglichen Lebens, der Baukunst, des Schreibens und Lesens kam, mit einigen Veränderungen, aus dem Osten. Die Bischöfe der westlichen, von Wäldern halb erstickten Diözesen reisten mühsam nach Konstantinopel und ließen sich von den Altären und Kirchen dort Elfenbeinminiaturen anfertigen, die sie nach Hause mitnahmen und von eigenen Handwerkern in Stein und Holz, und vor allem großformatig, umsetzen ließen. Mustair, Naturns, Cividale, viele andere Beispiele wären da zu nennen. Und die Mode in London, Paris und Aachen richtete sich nach den Kreationen am Kaiserhof von Konstantinopel.

Ein so tief mit unserer Kultur verbundenes Instrument wie die Orgel kam zuerst als Geschenk des Kaisers Konstantinos Kopronynos aus Konstantinopel an den fränkischen König Pippin. Unsere Neu-men stammen vom byzantinischen Kirchengesang, der wieder ohne jüdisches Vorbild nicht denkbar ist. Konstantinopel war das große Schmelzbecken der griechischen, römischen, jüdischen Kultur, die aus Athen, Ephesus, Alexandrien, aus Kappadokien und dem Wadi Natroun dorthin einströmte. Der größte byzantinische Hymnendichter, Romanos, war ein zum Christentum übergetretener syrischer Jude aus dem sechsten Jahrhundert. Und wo wären das Nibelungenlied, die mittelalterliche Heldenepik, die provencalische Dichtung ohne Romanos, ohne die byzantinische Epik und Liebeslyrik?

Ich wage die Behauptung, daß unsere Geschichte durch den Stolz des Westeuropäers einfach falsch geschrieben oder falsch rezipiert wurde. Die uns aus dem stalinistischen Moskau bekannte Veränderung der geschichtlichen Wahrheit hat lange vorher bereits in englischen, französischen und deutschen Landen stattgefunden, weil man zu eigenen Gunsten die Tatsache verschleiert oder verschwiegen hat, daß Europa ein Kind des Ostens ist. Das Unheil dieses, auf größte Eigenständigkeit des Westens von allem Anfang an ausgerichteten falschen Geschichtsbewußtseins prägte unsere Schulen, unsere Geisteswissenschaften und uns selbst bis heute.

Den engagierten Geschichts-veränderern im Westen kam auf tragische Weise zugute, daß die Urbilder unserer Kultur meist ganz real vernichtet wurden - oft von Langobarden, Vandalen, Goten, auf die sich die westliche Geschichtsschreibung zumindest epochen weise so stolz berief. Die Araber und

Türken haben dann den Rest besorgt. Unsere heutige Chance, die Wahrheit zu erkennen, liegt in dem Phänomen, daß diese teilweise von uns zerstörte und später verkleinerte Kultur stärker war als wir, wir sind ein Teil von ihr geworden. Wir sind ihre Erben, wir sind es, die sie heute weitgehend vertreten.

Heute weht nicht mehr der Ostwind, sondern der Westwind, und die Donau fließt hinunter ins Schwarze Meer. Nun, der Wind konnte sich nur deshalb drehen, weil früher eineinhalb Jahrtausende lang der Ostwind uns die Schiffe mit den Büchern, Manuskripten, mit den kleinen Elfenbeinmodellen der Kirchen, mit den Gelehrten, den Mönchen, mit der großen Kultur brachte, auf deren geistigen Fundamenten wir leben. Der überwiegende und wirksamste Teil der Geschichtsschreibung hat jedoch fortgefahren, die europäische Kultur als eine rein „westliche“ Kultur darzustellen und Paris, London, New York, also den Westen, als einziges Feld der neueren Kultur zu beleuchten.

Aber ist es denn nicht wirklich so, fragen viele. Geschieht denn nicht heute' alles Kreative, alles Neuartige, Fruchtbare in den Künsten und Wissenschaften, in der Physik, Technik, Genetik, Medizin, in den täglichen Errungenschaften der Zivilisation, geschieht all das nicht im Westen?

Gewiß haben sich die Schwerpunkte verschoben, und die Massenmedien tragen noch dazu bei, das zu unterstreichen: Die großen Kulturzentren mit ihren Kunstmärkten, ihren Filmproduktionen für Fernsehserien usw. liegen im Westen, oft in den USA. Aber erliegen wir nicht der Gefahr, einen extremen kulturellen „Okzidentalismus“ immer stärker auszuprägen?

Auch hier gab es für die extrem nach Westen gerichtete Orientierung eine verhängnisvoll erleichternde Entwicklung: Stalins Eiserner Vorhang. Genau dieser unterstützte den zwar großräumigen, aber doch sehr deutlichen westlichen Isolationismus. Damit wurden alle jene gedanklichen Positionen im Westen bestätigt, die meinten, die Kulturwelt höre überhaupt schon am Rhein auf, nachher komme ein äußerst gefährdetes Gebiet mit nur dünnem Kulturanstrich, das habe man ja durch Hitler sehen können, und am Stacheldraht der kommunistischen Staaten sei dann jede Kultur zu Ende.

Für uns, die wir in Österreich leben und die Verhältnisse erleben, ist diese Meinung nur schwer verständlich, jedoch bereits in Paris, in London, oder gar in den USA klingt sie auch in den Kreisen vieler Intellektueller durchaus plausibel. Nun, seit kurzem beginnt sich dieses falsche Bewußtsein zu ändern, und die politischen Trennungslinien verlieren ihre Bedeutung.

Wir geraten hier mitten in die Problematik österreichischen und vor allem Wiener Kulturlebens. Wien mit seiner vielbesprochenen Brückenfunktion war in Wahrheit nicht nur eine Großstadt, sondern der größte Teil einer Tripolis, die aus Wien, Budapest und Prag bestand. Je mehr ich mich mit der Kultur und vor allem mit der Literatur dieser Städte befaßte, umso deutlicher wurde mir, daß gerade die Zuströme aus den beiden anderen Städten die enorme Fruchtbarkeit Wiens von 1880 bis zum Zweiten Weltkrieg bewirkten. Es waren nicht nur die konkreten Einbürgerungen in Wien, sondern die lebhafte und völlig normale Gemeinsamkeit mit allem Streit, allen Intrigen, allen Freundschaften, die zwischen Budapest und Wien, zwischen Wien und Prag stattfanden, als handle es sich um verschiedene Bezirke der gleichen Stadt. Die Unterbindung dieser Verwandtschaftlichkeit brachte der österreichischen Kultur schweren Schaden, der sich umso schlimmer auswirkte, als durch die erzwungene Emigration unter Hitler außerdem eine ganze Schicht kreativer Menschen Österreich verlassen mußte und ebenso ein Großteil der Leserschaft verjagt oder vernichtet wurde. Nun fehlte auch noch der Zustrom und der kulturelle Austausch mit Prag, Brünn, Preßburg, Budapest, Krakau.

Als Folge davon veränderte sich der Charakter unserer Kultur, die bis zum Zweiten Weltkrieg eine Kultur der Urbanität war. Die Veränderung zugunsten der aus Österreichs Bundesländern kommenden Talente und Begabungen wäre an sich zu begrüßen, käme sie zu der bestehenden Tradition der Urbanität' hinzu. Doch unsere Urbanen Freunde in Prag und Budapest rücken jetzt erst langsam wieder näher.

Wenn man fragt, was heute denn die Besonderheit jener Kultur sei, die im „Osten“ entstehe, so ist zunächst vorauszuschicken: Diese Länder sind sehr verschieden, in der Tschechoslowakei, einem Staat mit hervorragender industrieller Tradition und mitteleuropäisch-westlichem Denken,oder in Rumänien, in Bulgarien, in Rußland gibt es deutlich unterschiedliche Situationen. Auch Polen lebt aus einer sehr eigenständigen Tradition und einem profilierten, von den anderen Ländern sich abhebenden Volkscharakter, der in seiner Kultur spürbar wird.

Was Rußland betrifft, ist wieder auf die Geschichte zu verweisen: Moskau wurde als „Drittes Rom“ gegründet, in geistiger Nähe, Konkurrenz und Nachfolge von Konstantinopel. Das Zarenreich führte den byzantinischen Doppeladler im Staatswappen wie später nur noch die österreichisch-ungarische Monarchie. Byzantinische Mystik, die Identität von Kaiser und kirchlichem Oberhaupt, politischer Zentralismus, ein streng hierarchisches kompliziertes Beamtentum waren direktes Erbe von Konstantinopel.

Um von der Gegenwart zu sprechen: Die Mystik, in vielen Variationen deformiert, die Schwierigkeiten mit der Ratio und der mit ihr zusammenhängenden technischen Zivilisation sind Eigenschaften der heutigen Kultur und auch der Politik der Sowjetunion. Alle diese Kräfte drangen überall in das von Moskau beherrschte Gebiet ein und stellten durch das gemeinsame politische System alle Menschen des kommunistischen Bereichs vor sehr

ähnliche Schwierigkeiten.

Dies bedeutet, daß die existentiellen Probleme, deren wir uns in Österreich nur mehr aus totalitärer Zeit und aus der unmittelbaren Nachkriegsphase erinnern (und die der jüngeren Generation überhaupt nicht aus eigenem Erleben bekannt sind), im politischen „Osten“ zum Teil noch die alltägliche Gegenwart kennzeichnen. Dadurch werden etwa die religiösen Kräfte erweckt oder wachgehalten. Dort geht die Kultur also tiefer an die Wurzeln unserer Existenz, sie ist tägliche Hilfe, tägliche Notwendigkeit, damit die Menschen noch Sinn finden können. Sie war sehr oft der einzige relative Freiraum, der dort bestand.

In diesen Ländern strömen noch kulturelle Quellen, die bei uns längst verschüttet und eingeebnet sind. Gerade indem wir uns mit dem kulturellen Schaffen dieser Länder, mit ihren Menschen, ihren Sorgen, ihren Problemen beschäftigen, können wir selbst eine Vertiefung unseres Lebens und Denkens erfahren, zu der wir in unserer so gefahrlosen Verwöhnungsgesellschaft des Westens gar nicht mehr kommen. Immer fällt mir dabei einer der „Unfrisierten Gedanken“ meines verstorbenen Freundes Stanislaw Jercy Lee aus Warschau ein, er lautet: „Ex Oriente lux, ex Occidente luxus.“

Natürlich hat auch der Westen den Menschen aus kommunistischen Ländern viel zu bieten, und zwar weitaus mehr als nur wirtschaftlich: nämlich Liberalität, Pluralität, eine besser funktionierende kritische Rationalität. Und Österreich ist tatsächlich nicht nur ein Tor zu diesem politischen Westen, sondern auch ein Tor, das geographisch nahe gelegen ist, und es ist ein Land, das einmal als Teil eines größeren Staates in seiner Vielsprachigkeit mit der stark osteuropäisch beeinflußten Kultur verbunden war.

Vergessen wir nicht: Der Reich -tum einer Kultur entspringt auch dem Reichtum ihrer Probleme, ihrer ungelösten Probleme -Probleme sind ein enormes kreatives Potential. Wir im Westen und in Österreich haben viele und schwierige Probleme, doch nehmen wir sie nur nebenbei und ungefähr wahr, weil sie uns nicht unter die Haut gehen. Noch einmal: Mit Problemen, die jeder täglich spürt, weil sie mit dem Wohnen, dem Essen, dem Heizen, der Kälte, der Zensur, dem Reisen zusammenhängen, also tief existentiell erlebt werden, übertreffen uns die Länder des „Realen Sozialismus“ bei weitem.

Gewiß, auch wir erkranken, sterben, haben Freunde und Verwandte, die leiden, und wir sollten uns bemühen, sowohl diese existentiellen Probleme als auch jene, an deren Beginn wir erst stehen - Umweltvergiftung, Übervölkerung, Satellitenfernsehen - nicht nur zu bereden, sondern existentiell zu erleben und mit allen menschlichen Konflikten literarisch und künstlerisch zu gestalten. Die Menschen in den kommunistischen oder einst kommunistischen Staaten können uns in ihren täglichen Sorgen und Konflikten manche Vorbilder abgeben. Da können wir lernen.

Die Donau fließt eben vom Westen nach Osten, und kulturell weht - ob wir wollen oder nicht - der Westwind des Erfolgs und der Publizität. Aber ein privater Wunschtraum wäre, daß vielleicht in einigen wenigen Nachtstunden die Donau doch aufwärts fließen und daß dem scharfen, kalten Ostwind ein wärmender Ostwind folgen möge, der die für den Westen so dringend benötigte kulturelle Belebung wecken könnte.

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