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Was wird aus der Landwirtschaft?

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Just zu einem Zeitpunkt, an dem nicht nur die österreichische, sondern die gesamte bäuerlich strukturierte Landwirtschaft Europas in das wahrscheinlich entscheidende Dezennium des Jahrhunderts trat, ging in Österreich eine bedeutende agrarpolitische Ära zu Ende.

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Just zu einem Zeitpunkt, an dem nicht nur die österreichische, sondern die gesamte bäuerlich strukturierte Landwirtschaft Europas in das wahrscheinlich entscheidende Dezennium des Jahrhunderts trat, ging in Österreich eine bedeutende agrarpolitische Ära zu Ende.

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Das Jahr 1970, reich an politischen Novitäten, bescherte der heimischen Bauernschaft gleich drei Landwirt- schaftsmiinister. Die unerwartet hohe Wahlniederlage der ÖVP am 1. März 1970 sowie das einseitige Taktieren der Voiksparted während der Regierungsverhandlungen führte im April vorigen Jahres zur Bildung einer sozialistischen Minderheitsregierung, der ein weithin unbekannter Kärntner Agrarfachmann als erster sozialistischer Landwirtschaftsminister in der Zweiten Republik als Nachfolger des bisher letzten ÖVP-Landwirt- schaftsmindsters Dr. Schleinzer angehörte. Noch ehe Dr. Ölünger dazu kam, sich als Minister zu etablieren, mußte er, nach einem „Kesseltreiben“ wegen seiner politischen Vergangenheit, das Ministerzimmer am Stubenring für seinen Parteikollegen Doktor Weihs räumen. Zum erstenmal nach 25 Jahren trat in Österreich der Fall ein, daß der Bauernbund und die bäuerliche Interessenvertretungen gegen den Landwirtschaftsmtai-

ster Stellung nahmen. Der Schock über den ersten sozialistischen Land- wirtschafteminister war aber bei den Funktionären des ÖVP-Bauembun- des sicherlich größer als in der Bauernschaft selbst, die schon in den Jahren 1968 bis 1970 mit der ÖVP- Agrarpolitik nicht mehr zufrieden war, was vor allem zu einer moralischen Aufrüstung des an und für sich unbedeutenden Allgemeinen Bauernverbandes führte. Innerhalb des Bauernbundes wich aber der Schock über die verlorene Wahl und über die verlorene Regierungsbildung schneller als in den anderen Bünden der politischen Ernüchterung, und es war vor allem die „Grüne Front“, welche am Ende einer bedeutenden agrarpoli tischen Ära eine konsequente Oppositionsstrategie gegen das Kabinett Kreisky entwickelte. Dies war um so leichter, als sich der Bauernbund bereits vor der Märzwahl 1970 von jenen Funktionären trennte, die während der 25 vergangenen Jahre ein unmittelbares Nahverhältnis zur politisch etablierten Macht hatten. So wurde Roland Minkowitsch als Nachfolger Josef Wallners zum Präsidenten des österreichischen Bauernbundes berufen, Dr. Lehner löste Isidor Grießner als Vorsitzender der Präsidentenkonferenz ab und in Niederösterreichs Landwirtschaftskammer zog Matthias Bierbaum als Präsident ein. Das agrarpolitische Erbe Grießners in Salzburg übernahm Matthias Schiffereg ger und in Kärnten wurde der aus der Landjugendarbeit kommende Abgeordnete zum Nationalrat, Valentin Deutschmann, zum neuen Obmann des Bauernbundes gewählt.

Von 263.000 Pferden zu 245.000 Traktoren

Die aktuellen agrarpoli tischen Fakten, wie sie sich in der Gegenwart präsentieren, sollten aber jene Leistungen, welche die österreichische Landwirtschaft in den vergangenen 25 Jahren erbrachte, nicht verblassen lassen. Der Übergang von der nachkrtegsbedingten Mangelwirtschaft zur heutigen Überflußwirtschaft schließt eine Fülle von Entwicklungsphasen ein, die von einer fast ausschließlich auf die menschliche und tierische Arbeitskraft axisgerichteten Arbeitstechnik in den bäuerlichen Betrieben bis zu hochentwickelten technischen Arbeitsprozessen reichen; dazwischen liegt der noch immer nicht abgeschlossene Strukturwandel mit all seinen ökonomischen und sozialen Auswirkungen.

In wenigen Zahlen ist die gewaltige Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft im abgelaufenen Vierteljahrhundert zu charakterisieren:

Im Jahre 1945 arbeiteten noch mehr als eine Million Menschen in der österreichischen Land- und Forstwirtschaft, im Jahre 1970 sind es nur noch rund 560.000. Die Zahl der Betriebe verringerte sich von rund 433.000 auf etwa 375.000, während sich der Rohertrag der Land- und Forstwirtschaft von etwa 11 Milliarden Schilling auf etwa 32,4 Milliarden Schilling im Jahre 1969 erhöhte. Die Zahl der Pferde nahm von 263.000 auf etwa 45.000 ab, die Anzahl der Traktoren stieg zwischen 1945 und 1970 von rund 7500 auf etwa 245.000 an.

Interessant ist auch ein Vergleich des Rohertrages je Hektar reduzierter landwirtschaftlicher Nutzfläche, der sich von etwa 725 Schilling im Jahre 1946/47 auf rund 14.100 Schilling im Jahre 1969 erhöhte. Zu berücksichtigen sind allerdings bei diesem Vergleich verschiedene inflationäre Tendenzen, das heißt, die anhaltende Geltentwertung.

Die Brotgetreidemarktleistung betrug im Jahre 1946/47 rund 185.000 Tonnen, im Jahre 1969/70 waren es 636.000 Tonnen. Die Milchproduktion erhöhte sich im gleichen Zeitraum von rund 1,57 Millionen Tonnen auf rund 3,35 Millionen Tonnen, wobei die Kuhzahl van 1,13 Millionen Stück auf 1,07 Millionen abgenommen hat. Die Epoche der ÖVP-Agrarpolitik war immer auch ein getreues Spiegelbild der jeweiligen agrarwirt- schaftlichen Situation. Sowohl Josef Kraus als auch Franz Thoma wurden mit dem Problem konfrontiert, durch die Forderung der Produktion eine ausreichende Versorgung der heimischen Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln sicherzustellen. Bereits in den fünfziger Jahren stieg die Deckungsrate auf 80 Prozent und während der Amtszeit Landwirt- schaftsminister Dr. Hartmanns (1959 bis 1964) wurde die Agrarpolitik immer stärker mit den Überschuß- Problemen und dem Ungleichgewicht auf den Agrarmärkten konfrontiert. Die im Jahre 1950 erlassenen Wirtschaftsgesetze wurden bereits 1958 in das Marktordnungsgesetz zusammengefaßt, da® bis heute — als liebgewordenes Faustpfand sozialistischer Junktimierungs- politik — in elfmaliger Novellierung in Kraft ist. Landwirtschaftsminister Dr. Hartmann war es aber Vorbehalten, das Marktordnungsgesetz durch das im Jahre 1960 geschaffene Land- wirtschaftsgesetz zu ergänzen, das auch heute noch die wichtigste gesetzliche Basis für die Agrarförderung ist. Im Jahre 1961 wurde erstmals der auf dem Landwirtschaftsgesetz basierende „Grüne Plan" wirksam, welcher derzeit die Säule der österreichischen Agrarförderung darstellt.

Als im Jahre 1964 Landwirtschaftsminister Dr. Schleinzer zum Landwirtschaftsminister berufen wurde, kam in die Agrarpolitik ein neues Element: die Strukturpolitik. Sie wird ergänzt durch flankierende Maßnahmen der Sozialund Arbeitsmarktfönderungspohitik (Bauempension, Arbeitsmarktförderungsgesetz). Während der Amtszeit der ÖVP-Alleinregierung beschloß der Nationalrat auch eine Reihe wichtiger Gesetze (Siedlungs- grundsatagesetz), welche der Struktur-Verbesserung in der Landwirtschaft dienen.

Bauernhöfe oder Agrarfabriken?

Am Beginn dieses Jahrzehnts sieht sich also die Agrarpolitik im zunehmenden Maße mit sozialen und soziologischen Problemen konfrontiert und die vornehmlich im EWG- Raum ausgelöste Hysterie von Programmen — die Diskussion um den „Mansholt-Plan“ zieht sich schon eineinhalb Jahre hin — zeigt, wie uneinheitlich Wissenschaftler, Förderungsbeamte und Praktiker die Zukunft der Landwirtschaft sehen. Ebenso uneinheitlich sind die Auffassungen über die Priorität0” Während verschiedene Wissenschaftler, zum Beispiel die deutschen Professoren Niehaus und Kötter, sich von der Forcierung der Strukturpolitik ein besseres Marktgleichgewicht und letztlich auch ein höheres Einkommen für die Landwirtschaft erwarten, gibt es wieder andere Experten, welche die agrarischen Initiativen auf die Preispolitik konzentriert sehen wollen. In der agrarpolitischen Diskussion überwiegt aber derzeit das strukturelle Element. So ist es auch verständlich, daß das bisher mit viel Aufwand gepflegte und verteidigte agrarpolitische Leitbild Europas, der bäuerliche Familienbetrieb, immer mehr ins Wanken gerät. Der frühere Landwirtschaftsminister Dr. Schleinzer bekannte sich mehrmals überzeugend zum bäuerlichen Familienbetrieb, während am Beginn dieses Jahrzehnts sowohl Bauembundfunktionäre als auch Wissenschaftler immer mehr von „lebensfähigen bäuerlichen Unternehmereinheiten“ oder schlicht von „Vollerwerbsbetrieben“ sprechen.

In der EWG ist es der für die Agrarpolitik zuständige Vizepräsident Dr. Sicco Mansholt, welcher in seinem vielgepriesenen, aber noch mehr gescholtenen Programm .Landwirtschaft 1980“ einerseits von modernen „landwirtschaftlichen Unternehmen" und anderseits von „entwicklungsfähigen Betrieben“ spricht. Seiner Meinung nach liegt die Zukunft der europäischen Landwirtschaft im „Europahof“, dessen Größe aber kaum 5 Prozent der derzeitigen bäuerlichen Betriebe in der EWG erreichen.

In Österreich und in Westdeutschland herrscht aber auch nicht zu unrecht die Meinung vor, daß sich die sozio-ökonomische Verlagerung zum Nebenerwerbsbetrieb weiter fortsetzen wird und es daher darauf ankomme, eine geeignete Differenzierung der Agrarförderung unter Berücksichtigung der verschiedenen Betriebstypen zu finden. Tatsache ist, daß die Zukunft der Nebenerwerbslandwirte sicherer zu sein scheint als jene der Vollerwerbsbetriebe, deren Existenz nur vom landwirtschaftlichen Einkommen abhängig ist. Aus diesem Grund ist der Vollerwerbsbetrieb sehr stark von der Preispolitik abhängig, um dem steigenden Kostendruck ausweichen zu können. Da partielle Agrarüberschüsse bei den einkommensbildenden Produkten wie Brotgetreide, Milch, Obst und Wein, eine aktive Preispolitik erschweren, sind viele Betriebsinhaber gezwungen, risikoreiche Rationalisierungsinvestitionen zu tätigen, um wenigstens auf der Kostenseite Einsparungen zu erreichen.

Die Agrarpolitik sieht sich daher auch gezwungen, in Koordinierung mit der regionalen Wirtschaftspolitik dafür Sorge zu tragen, daß Zu- und Nebenerwerbsmöglichkeiten im ländlichen Raum geschaffen werden. Der Strukturwandel in Österreich hält nämlich unvermindert an. Eine harmonische Strukturbereinigung in der Landwirtschaft kann sich aber nur so lange vollziehen, als die Industrie und der Dienstleistungsbereich in der Lage sind, das frei werdende landwirtschaftliche Arbeitspotential aufzufangen. Die in den letzten Jahren forcierte Sozialpolitik für die Bauernschaft, ergänzt durch flankierende Maßnahmen im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik, wird daher in den kommenden Jahren von besonderer Wichtigkeit sein.

Mit Sicherheit wird es im Jahre 1980 weniger Bauern und weniger Betriebe geben als 1970. Wie aber der Bauernhof an der Schwelle zum Jahre 2000 aussehen wird, ist schwer zu sagen. Für jene Gebiete in Österreich, in denen der Fremdenverkehr eine große Rolle spielt, dürfte der Nebenerwerbstandwirt die Zukunft sein. Der Vollerwerbsbetrieb wird sich überall dort behaupten, wo die innerlandwirtschaftliche Arbeitsteilung und die betriebsbezogene Spezialisierung so weit fortgeschritten ist, daß um die verfügbaren Markt- und Einkommensanteile nicht zu viele verschiedene sozio- und ökonomische Betriebstypen konkurrieren. Für die Zukunft des Vollerwerbsbetriebes ist aber sehr entscheidend, welche Realisierungsmöglichkeiten für die aktive Preispolitik in den kommenden Jahren bestehen. Es ist vor allem die bäuerliche Jugend, welche besorgt in die Zukunft blickt und um ihre F-Hstenz bangt. In ganz Europa demonstrieren in diesen Wochen die Bauern und fordern bessere Preise, weil die derzeitigen Agrarpreise oft seit vielen Jahren unverändert geblieben sind. Die Landwirte fühlen sich als Stiefkinder, als Außenseiter der Industriewirtschaft. Und es mag ein makabres Schicksal sein, daß jene Revolution, welche die Arbeiterschaft bereits in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts bewältigt hat, für die Landwirte erst beginnt. Der Prozeß von der quantitativen Mehrheit zur qualitativen Minderheit ist von der Bauernschaft vor allem auch geistig zu bewältigen. Die Alternative Bauernhöfe oder Agrarfabriken ist nämlich nur eine von vielen.

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