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Was zählen Hungernde?

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Staub liegt auf den Passagieren der dritten Klasse. Der Zug hält oft an. Dann schwemmt der Schweiß den Staub von den Gesichtern. Im fahlen Gelb der ausgetrockneten Ebene sinkt jeder Reisende in einen Halbschlaf. Zieht aber eine Wolke am Himmel vorbei, sind sie alle wach und stürzen an die Fenster...

Sechzehn statt zwölf Stunden braucht der Ahmedabad-Expreß von Bombay in die Hauptstadt von Gu-jarat. Nach diesem Jahr der Trockenheit sind die Bahndämme noch von den Fluten der vergangenen Jahre ausgeschwemmt. Uber hunderte Kilometer ist der Boden hart und zerrissen, ein vertrockneter Sumpf. Dann wird er weich und gleichmäßig: Sand auf den Büschen, Sand auf den blattlosen Bäumen, nur wenige Palmen haben Wipfeln. Einige Tiere halten sich noch auf den Beinen und grasen auf dem versandeten Boden. Man sieht eine Handvoll Kinder in jedem Dorf, die haben wie die Tiere die Farbe der Savanne.

1971 hat der Monsun die Landschaft unter einer Flut ersäuft. 1972 blieb der Monsun aus, es kamen Trockenheit und Dürre. Im Juni 1973 fragen selbst die vertrockneten Büsche um die durstigen Brunnen: Wird diese Wolke, die über einen Himmel zieht, der zwanzig Monate lang wolkenlos war, den Monsun bringen? Und was für einen Monsun wird sie bringen?

Jede Wolke löst überall in Indien dieselbe Frage aus. Reis- und Getreidevorräte gehen in diesem Sommer zur Neige. Die Landbesitzer mit ihren Wucherpreisen sind stärker als die Regierung mit der Verstaatlichung des Getreidehandels.

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In den Regionen der Dürre leben heute 150 Millionen der 550 Millionen Inder. Die Kindersterblichkeit ist dort auf 70 Prozent gestiegen. Diese Landstriche veröden und die

Slums um die Achtmillionenstadt Bombay wachsen. Auf den Goldmärkten von Bombay sinken die Goldpreise, weil in den Dörfern von Gujarat und Maharashtra die Männer den mobilen Goldhändlern die Reifen und die Ringe ihrer Frauen verkaufen.

Eisenbahnerstreiks, die Getreide-und Lebensmittelzüge aufhalten, Gendarmeriemeutereien, die nach tagelangen Kämpfen von der Armee unterdrückt werden, „Bandhs“, das sind Terrorakte, die ganze Städte und Industrien durch Demagogen der Linken und der Rechten stillegen, Studentenstürme auf Universitäten, Zerstörung von Verteilungsläden, die keine Rationen mehr haben; dies alles kündigt das lokale Chaos an, läßt den Monsun noch lange auf sich warten, aber auch das nationale Chaos, bleibt der Monsun wie im vergangenen Jahr aus.

Wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt fährt der Zug durch die leblosen Felder von Gujarat. An den Fenstern der Abteile zieht die Landschaft vorbei gleich einem Dokumentarfilm über eine Dürre in irgendeinem entfernten Land. Im Luxusabteil kühlt eine wasserverschwendende Kühlanlage sechs Personen. In der dritten Klasse sitzen die Menschen neben ihren armseligen Bündeln.

Zug und Landschaft, Bahnhof und Dorf sind verschiedene Welten. Die im Zug sitzen, wissen, daß sie durch ein Territorium des Hungers fahren. Sie hoffen, die Wolke werde endlich die Dürre und den Hunger beenden; das gehörte zum Patriotismus, zur Politik und Wirtschaft, zu Indira Gandhis Krieg gegen den Hunger. Aber Indira Gandhis Krieg mobilisiert nur jene, die jenseits der Hungergrenze sind. Im Gebiet der Trok-kenheit ist jede Mobilisierung sinnlos. Das teilt Indien — ungefähr in der Mitte — in zwei Welten.

Ahmedabad mit zwei Millionen Einwohnern ist die Hauptstadt des regenlosen Staates Gujarat und Zentrum der Textilindustrie. Textilba-rone und ihr Anhang leben mit ihren Spitzen der Politik und der Bürokratie jenseits des Flusses. Stammarbeiter der Textilmühlen, Beamte, Funktionäre, Händler leben im Zentrum der Stadt. Die Hilfsarbeiter wohnen in den Wohnkasernen zwischen den

Mühlen, jede Familie in einem dunklen Loch. Dann kommen die Slums für die Zugewanderten an der Stadtgrenze. Die ersten kamen vor achtzig Jahren aus Rajastan auf der Flucht vor einer Hungersnot. Sie gehörten einer Bauernkaste an und sind jetzt „Unberührbare“. Von Generation zu Generation werden sie kleiner, schmäler und in der immer dichter werdenden Enge gewalttätiger. Die neuen Zuwanderer kommen aus Ma-harashtra und Gujarat. Von den Tex-tilbaronen und den Textilgewerk-schaften werden sie nicht aufgenommen. Sie siedeln sich an der Stadtgrenze an, an der Grenze zwischen beiden Welten.

Ahmedabad gehört zu den heißesten Städten auf diesem Subkontinent. Am Tag sind die Straßen fast leer. Im Villenviertel genießen die Menschen das Wasser, das sie in Dachbehältern gespeichert haben oder aus besonderen Brunnenanlagen oft über Hunderte Kilometer beziehen. Und sie genießen die Früchte, die aus den südlichen Staaten eingeflogen werden. Im Zentrum der Stadt sind die meisten Läden gesperrt und die Händler lagern bis in den Abend in kühlen Winkeln ihrer Häuser. Aber in den Slums und jenseits der Stadtgrenze kennen Hitze und Dürre keine Milde. Die meisten Tiere sind fortgezogen. Sie waren mobiler als die Menschen und traten die Wanderung in die Richtung an, wo sie Wasser und Futter vermuten.

Die Besitzer hinderten sie nicht. Und sie folgten ihnen auch nicht.

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Auf den leeren Straßen im Inneren von Ahmedabad lagert Polizei. Ihre Lathis, die langen Schlagstöcke aus Bambus, haben sie in Reichweite, die Karabiner lehnen an den Hauswänden. Bei mehr als 50 Grad Celsius bewirkt die Hitze, wenn man aus dem Dösen erwacht, leicht Gewalttat. Im Slum verstecken sich die Kinder, in den Häusern sind die Frauen ängstlich. In dieser Zeit genügt ein Gerücht, den Haß zwischen Muslim und Hindus zu entzünden.

Die Meldungen von Hindu-Muslim-Kämpfen in Poona bringen in Ahmedabad Bilder von fast schon vergessenen Gemetzeln. „Kuhschlächter“ nennen die Hindus jetzt ihre mohammedanischen Nachbarn. Und die Muslims kolportieren das

Gerücht von einem Schwein, das nachts von Hindus über die Mauer in den Hof der Moschee geworfen wurde. Die Häusergruppen der Händler und Stammarbeiter waren Zentrum des gegenseitigen Gemetzels und werden vor dem Monsun zum kritischen Gebiet. Man fühlt, wie sich der Haß auch auf die Ziegelslums der Textilarbeiter ausdehnt.

Nur ungefähr zehn Prozent der Menschen in Indien sind Mittelstand, aber weitere zwanzig Prozent gehören zu den „Mittelschichten“. Dreißig Prozent der Inder, 150 Millionen bis 200 Millionen Menschen, die vom Hunger nicht gelähmt sind, aber die Not spüren, lernten zu sprechen und sie haben den Wert ihrer Stimme erkannt.

Sie sind Indiras Indien. Siebzig

Prozent der Menschen in Indien, in Generationen der Unterernährung verstummt und geschwächt, leben außerhalb von Indiras Indien, im Niemandsland der Politik. Blanke Steine im politischen Spiel, von den Politikern nach Bedarf und Belieben eingesetzt.

„Garibi Hatao“, „Krieg der Armut“, „Entfernt die Armut“ war Indira Gandhis erfolgreicher Wahlspruch. „Sie kehren die Armut aus ihren Straßen in unsere Dörfer“, sagt mir der Bildhauer Piraji Sagara in Ahmedabad.

Die Armut aus den Stadtvierteln der Mittelschichten zu entfernen, ist Indira Gandhis Existenzpfoblem. Indiens Sieg über Pakistan gab diesen Menschen ein neues Großmacht- und Selbstgefühl. In der Befreiungseuphorie sprachen die Politiker, die hohen Beamten manchmal vom indischen

Verzicht auf ausländische Hilfe — und die Mittelschichten fühlten-sich stark. Als das Großmacht- und. Befreierbewußtsein zu verrauchen begann, merkte man, daß Indien mit dem Sieg über Pakistan dem Sieg über die Armut nicht einen Schritt näher gekommen ist. In den Vierteln der Mittelschichten frißt die Inflation einer siechen Wirtschaft an der kaum errungenen Mittelstandsexistenz. Sechstausend neue Arbeitslose an jedem Tag: Industriearbeiter, Akademiker, Schulabsolventen bringen Millionen Menschen der Mittelschichte in eine gefährliche Nähe der Grenze, die Indien teilt. Die Gefahr, über die Grenze in die Masse der Hungernden, der Erlahmten, die unartikuliert sind und nicht zählen, gestoßen zu werden, speichert Verzweiflung und Angst in den Menschen, die Indiras Indien sind. ★

Als ich von Ahmedabad nach Bombay zurückfuhr, stiegen in der letzten Station vor der Metropole Abteilungen von Polizisten in bereitgehaltene Waggons ein. Bombay ist an diesem Tag in der Gewalt des „Bandh“, den ein Labourboß, Georg Fernaiidez, der Achtmillionenstadt aufgezwungen hatte. Der „Bandh“ war ein Erfolg, eine Einheitsfront der Linken; hunderttausende Hafenarbeiter, Industriearbeiter und Taxifahrer entschieden sich zum erstenmal gegen die Siegerin von 1970, Indira Gandhi.

Nur die Partei des neuen und jungen Bürgermeisters von Bombay, Sudhir Joshi, stemmte sich gegen das Vorgehen Fernandez' und rächte sich am folgenden Tag durch Terror und Plünderungen an Arbeitern und Geschäftsleuten.

Unerschüttert wie den Terror des Labourboß nahm Bombay den Terror der „Shiv Sena“ des neuen Bürgermeisters hin. Denn „Shiv Sena“, die obskure Partei aus terroristischem Rassismus und Chauvinismus, ist salonfähig geworden. Unter dem Druck der Preissteigerung und in der Angst vor der Verelendung haben die Schichten des Kleinbürgertums ihren Kandidaten zum Bürgermeister der Achtmillionenstadt, der zweitgrößten Indiens, gemacht.

In Ahmedabad zeigte die Angst vor einem Gemetzel zwischen Hindus und Muslim, in Bombay zeigten Fernandez und Sudhir Joshi, daß links und rechts gewalttätige Demagogen Indiras Indien der Mittelschichten und der Arbeiter gefährden. Ihre Politik muß die Artikulierten — die 150 Millionen bis 200 Millionen Inder diesseits der Hungergrenze — beruhigen, befriedigen. Ihre Kampagne gegen die „Feinde Indiens“, gegen Verarmung und Preissteigerung muß dem Kleinbürgertum gefallen.

Aber dort, wo der „Krieg gegen die Armut“ ein Kampf um das Überleben ist, in den Dörfern der Dürre und in den Slums — dort wird er nicht geführt. Indira Gandhi hat, möchte man meinen, ihre Dörfer und Slums vergessen ...

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