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Wasleisten unsere Bühnen?

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Was bedeutet es, wenn zehn Kritiker sich nach einigem Streiten darauf einigen, daß von etwa zweitausend Schauspielinszenierungen in der Bundesrepublik, in Österreich und in der Schweiz acht interessant genug sind, sie auf Steuerkosten nach-Berlin einzuladen? Die Weltstadt ohne Hinterland zieht für zwei Wochen wenigstens die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Theaterwelt auf sich; die Berliner Theaterfans sehen, was „draußen“ gemacht wird; Berlins Hotelbranche freut sich über bessere Auslastung ihrer Bettenkapazitäten.

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Was bedeutet es, wenn zehn Kritiker sich nach einigem Streiten darauf einigen, daß von etwa zweitausend Schauspielinszenierungen in der Bundesrepublik, in Österreich und in der Schweiz acht interessant genug sind, sie auf Steuerkosten nach-Berlin einzuladen? Die Weltstadt ohne Hinterland zieht für zwei Wochen wenigstens die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Theaterwelt auf sich; die Berliner Theaterfans sehen, was „draußen“ gemacht wird; Berlins Hotelbranche freut sich über bessere Auslastung ihrer Bettenkapazitäten.

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Die eingeladenen Regisseure, Schauspieler und Bühnenbildner haben für zwei Spielzeiten ausgesorgt, und manchem lokal angefochtenen Theaterleiter mag es nach dem Ausflug nach Berlin auf seinem wak-keligen Sessel wieder etwas wohler sein.

Schließlich kommen“ Teile des deutschsprachigen Theaters einmal jährlich in Kontakt: man trifft sich, diskutiert und vergleicht. War die Auswahl gut, läßt sich eine Zwischenbilanz der Theaterentwicklung ziehen — falls sich etwas entwik-kelt hat. — In diesem Jahr, das sei vorweggenommen, buk der Theaterfortschritt kleinere Brötchen als zuvor.

Tschechows „Onkel Wanja“ in der Regie von Erwin Axer (Kammerspiele München) fiel aus Termingründen aus. Österreich und die Schweiz waren gar nicht vertreten: die Jury hatte offenbar nichts entdeckt, was ihr interessant genug schien (immerhin hatte die Wiener Inszenierungen von Bonds „Lear“ und Bernhards „Ein Fest für Boris“ zur Diskussion gestanden).

Thomas Bernhard stand dennoch auf dem Programm: sein zweites Stück „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, von Claus Peymann mit Bruno Ganz für die Salzburger Festspiele inszeniert, dort unter skandalösen Umständen kurzfristig abgesetzt und im Winter vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg übernommen, ging in Berlin trotz eingeschalteter Wotheleuchtung über die Bühne — kein Hahn krähte mehr nach der in Salzburg umstrittenen totalen Finsternis.

Zeigt Bernhard das Verschwinden des Menschseins beziehungsweise der Menschlichkeit an Beispielen aus Wissenschaft (Medizin) und Kunst (Oper), ohne seinem tiefen Pessimismus auch nur ansatzweise zu entkommen, so verfährt der jüngste Senkrechtstarter unter den deutschen Dramatikern, Franz Xaver Kroetz anders. Er zeigt in seinem Stück „Stallerhof“ (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Regie: Ulrich Heising, mit Eva Mattes und Bruno Dallansky) die Menschen als vermeidbar unterentwickelte Wesen. Seine armen Kreaturen aus , dem Bauernmilieu, die nicht in der Lage sind, ihre Gefühle zu äußern oder gar ihr Leben selbst zu gestalten, sind Beispiele für jenen großen Teil der Bevölkerung, der wirtschaftlich und bewußtseinsmäßig abhängig gehalten wird.

' Abhängigkeit des Bewußtseins von den konkreten historischen Lebensumständen war das Thema von drei weiteren Auswahlinszenierungen: am eindrücklichsten für mich Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ (Schaubühne Berlin, Regie: Peter Stein, mit Angela Winkler und Rüdiger Hacker). Hier sind verklemmte Sexualität, Aberglaube, kleinbürgerliches Verhalten und der Kampf jugendlich-labiler Menschen eindrucksvoll an Sprache gefaßt und auf der Bühne wiederum einsichtig und ausdrucksvoll dargestellt.

Aufarbeitung bürgerlicher Ideologie, seit Jahren eine wesentliche Seite westdeutscher Theaterarbeit, wurde auch an Ibsens „Nora“ (Frankfurt, Regie: Hans Neuenfels, mit Elisabeth Trissenaar und Peter Roggisch) und an Hebbels „Maria Magdalena“ (Köln, Regie: Hansgünther Heyme, mit Barbara Nüsse) versucht. In beiden Fällen wurden der Autor und sein Bewußtsein mitinszeniert, wurde durch Übersteigerung und bewußte Künstlichkeit der schauspielerischen Mittel eine Distanz geschaffen, die kühle, analytische Betrachtung durch den Zuschauer ermöglicht. Dieser wird so allerdings stark ge- und oft über-

fordert, der Theaterbesuch kann zu einer anstrengenden Sache werden.

Die Einbeziehung des Autos in die Inszenierung glückte in einer höchst artistischen Aufführung von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“ (Schaubühne Berlin, Regie: Peter Stein, mit Bruno Ganz, Jutta Lampe und Peter Lühr). Zu sehen war der Traum des Idealisten Kleist von einer Versöhnung der gesellschaftlichen Gegensätze, zu sehen auch die Absurdität eines solchen Traumes, die sinnfällig wurde gerade am Leben und am verzweifelt-hoffnungslosen Ende des Autors.

Es bleibt der Bochumer Versuch, „Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ wieder als Komödie zu spielen. Der Regisseur Peter Zadek scheiterte letztlich wieder einmal daran, daß es ihm nicht gelang, seine oft glänzenden szenischen Einfälle in einen Sinnzusammenhang zu brin-

gen und entsprechend ihrer Bedeutung in das Stück ohne Verlust an Tempo und Aufmerksamkeit einzuordnen.

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Der Kritiker Peter Iden formulierte zur Eröffnung des Theatertreffens drei Möglichkeiten des Theaters, auf anschauliche Weise gesellschaftliche Sinnzusa.mmenhänge zu vermitteln: es könne im Vergangenen suchen „nach den nicht erledigten Ursachen für die Notstände jetzt“, es könne sich „mit aktuellem Material zum Widerspruch anspannen gegen das, was ist“ und es könne das Utopische als das menschlich Machbare sinnlich darstellen.

Wir sehen tatsächlich die Ansätze, solche Möglichkeiten wahrzunehmen, wir sehen sie seit Jahren als angestrengte Versuche, nur selten als geglückte Lösungen. Die Schwierigkeit liegt, so meine ich, an der tiefen und komplizierten Gespaltenheit unserer Gesellschaft, es liegt daran, daß das Theater trotz besten Willens kaum Verbindjung zu jener Mehrheit findet, in der Hoffnung auf Änderung begründet liegt. Die Isoliertheit des Theatertreffens im Lebenszusammenhang der Stadt Berlin kennzeichnet überdeutlich diesen Zustand: isoliert sind die Theater und ihre Besucher-„Elite“, isoliert ist die Form der theatralischen Darstellung in jeder Hinsicht. Nur wer dies'als Aufforderung dauernd sieht, kann den öffentlichen Anspruch des Theaters auf weitere Beachtung und weitere Förderung vertreten.

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