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Watschen für den Zeitgeist

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Ernst Vasovec hat einen neuen großen Roman geschrieben, „Sodom oder Das Vorbestimmte und das Zugefügte“. Franz Richter hat das Buch für die FURCHE in der Nummer 45/78 bereits kurz besprochen. Herbert Eisenreich hat sich mit diesem Roman nun genauer auseinandergesetzt.

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Ernst Vasovec hat einen neuen großen Roman geschrieben, „Sodom oder Das Vorbestimmte und das Zugefügte“. Franz Richter hat das Buch für die FURCHE in der Nummer 45/78 bereits kurz besprochen. Herbert Eisenreich hat sich mit diesem Roman nun genauer auseinandergesetzt.

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Jahr für Jahr kommen Dutzende, ja .Hunderte von Büchern auf den Markt, deren jedes von den Verlegern als „Buch des Jahres“ angekündigt und von den Rezensenten als solches gefeiert wird; und zwar zu Recht, weil sie, diese Bücher, üblicherweise nicht länger sich halten als eben ein Jahr lang. Denn „wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird bald Witwer sein“ (Kierkegaard).

Der Roman „Sodom oder Das Vorbestimmte und das Zugefügte“ von Ernst Vasovec, dank der Vermittlung des sensiblen Literaturkenners Hermann Schreiber kürzlich bei Schneekluth erschienen, hat mit dem Zeitgeist nur die Zeit gemein, und selbst diese nicht völlig und ausschließlich; insofern nämlich, als das durch Vielfalt verwirrende Bild der Zeit (etwa Ende der dreißiger bis Anfang der siebziger Jahre) auf einem durch Einfachheit klaren Raster dessen aufliegt, was man das Ewige im Irdischen nennen könnte.

Weil nun freilich der Erzähler sein Bild von der Welt in einen linearen Vorgang umsetzen muß (aus welchem dann im Leser neu jenes Bild sich formt), hat Vasovec mit der Kunst der Fuge sein zeitgeschichtliches Thema mit einem biblischen zusammenkomponiert-ja, wahrhaftig: komponiert! Denn mit feinem Takt vermeidet er, irgend eine billige, sozusagen auf der flachen Hand liegende und somit flaches Denken verratende Analogie zu konstruieren: etwa zwischen dem Wien von 1938 und dem Sodom zu Zeiten Lots. Zwar synchronisiert er die beiden Handlungsstränge im vorletzten Doppel-Kapitel aufs allerengste; aber die Kontraste dehnen sich zwischen dem „Äh“, mit dem das 700-Seiten-Opus anhebt, und der „Herrlichkeit“ (allerdings mit Fragezeichen), womit es schließt

Da ist einerseits die Zeitgeschichte Österreichs unter Hitler, im Krieg, in dessen zuerst ökonomischen und dann geistig-sittlichen Nachwehen, bis zur Enthemmung des Liberalismus in Libertinage des Denkens, des Fühlens, des Handelns. Es gibt da nun wohl auch den Mörder in SS-Uniform und den modernistischen Jungtheologen, den tapferen Offizier und den forschen Nachkriegsgewinnler, den Kriminellen und den „Idealisten“, aber sie alle weitab vom Klischee: sie alle gemixt aus den Ingredienzien banalen und offenbar doch , gottgewollten Menschseins.

Und da ist anderseits Sodom - ein Sodom allerdings, in dem der immens gebildete Verfasser die ganzen weltlichen Tendenzen früher Hochkultur zusammenschaut und zusammenfaßt. (Wobei sofort anzumerken ist, daß da durchaus nicht ein historischer Bilderbogen entfaltet, sondern, bei denkbar sauberster wissenschaftlicher Akribie, der ganze Geruch einer Epoche - vom Duft bis zur Ausdünstung - evoziert wird!) Der Welt einer immanent begriffenen und deshalb notwendig entartenden Kultur steht schroff die von Abraham verkörperte Welt des Glaubens entgegen, während Lot, von dem Ernst Vasovec ein wohl unvergeßliches Gemälde geschaffen hat, wie der Alte zuletzt nur noch seinen Weinkrug hat und doch auch noch immer und jetzt erst recht eine seligmachende Ahnung von dem, was für Abraham heiligmachende Gewißheit ist; während Lot also zwischen den beiden Welten wandelt und pendelt, beide in sich begreifen, in sich versöhnen will... Lot, in der Bibel doch nur Statist auf der Bühne des Heilsgeschehens, und hier vom Dichter verdichtet zu neuem Urbild menschlichen Schicksals: eingespannt zu sein in das Gött-

liche wie in das Menschliche, und damit nun verurteilt zu sein zur Tragik.

Trotzdem, wie schon gesagt: die Analogie ist keine direkte. Nicht sensationelle Parallelität, sondern wesentliche Identität soll sichtbar werden in der kompositorischen Zusammenfügung von dem, das wir das Vergangene nennen, und dem, was wir für seiend halten - weil nämlich beide, das so genannte Vergangene und das so genannte Seiende, einander wechselseitig erhellen, damit klären, damit erklären. Einzig darin liegt die Absicht des sonst absichtslos, nämlich unideologisch erzählenden Ernst Vasovec: uns daran zu erinnern, daß nie eines ist ohne das andere: keine Zeit ohne Ewigkeit, wie auch: keine Ewigkeit ohne Zeit Denn diese realisiert sich - wird volle Wirklichkeit - erst in jener, und jene in dieser.

Mit dieser nun durchaus nicht philosophisch, sondern rein erzählerisch vorgetragenen Philosophie versetzt Ernst Vasovec dem Zeitgeist freilich die ungeheuerlichsten Watschen. Denn schon von Hegel und dann von Marx haben wir uns aufschwätzen lassen, daß die ganze Vergangenheit einzig auf uns hin orientiert gewesen sei: daß die gesamte Menschheitsgeschichte einzig um unsertwillen stattgefunden habe. Wie, genau genommen, schon der religiöse, also noch gebundene Chiliasmus, so hat dann erst recht der säkularisierte Chiliasmus der eben genannten Menschheitserlöser die simple Tatsache weggeleugnet daß etwas, das einen Anfang gehabt hat, sowohl für unser natürliches als auch für unser logisches Denken nun denn wohl auch ein Ende haben muß - gleichgültig, ob man im Hinblick auf das Universum nun zyklisch denke wie die vorplatonischen Griechen und die jüngste Astrophysik (von Urfeuer zu Urfeuer bzw. von Urknall zu Urknall), oder linear (von der Schöpfung durch Gott bis zur Heimholung des Geschaffenen zu Gott) wie das alte Judentum. Jedenfalls ist die heute übliche, ja selbstverständliche Vorstellung eines auf uns bezogenen Fortschritts ein gedankliches Monstrum, geboren aus dem Egoismus, der sich zwangsläufig einstellt, sowie man Gott als die Voraussetzung wie als die Bestätigung jedes Ego für tot erklärt.

Dieser abstrusen, weil von jedweder Erfahrung widerlegten Selbsteinschätzung, daß wir's so herrlich weit gebracht hätten oder zumindest demnächst bringen würden, setzt dieser außerordentliche Roman das Bild vom Menschen entgegen, der es jeweils so weit bringt, als es ihm gelingt über sich selber hinaus zu gelangen; oder, bescheidener ausgedrückt, von sich selber abzusehen, und zwar von sich selber abzusehen auf ein Du hin - was freilich, wenn wir den überhaupt nicht didaktischen Autor recht verstehen, nur gelingen kann, wenn man im mitmenschlichen Du etwas sieht, das Gott geschaffen hat „sich zum Bilde“. Erst dadurch nämlich unterscheidet der Mensch sich kategorial vom Tier, und eo ipso ist das, worauf unser Zeitgeist wie jeder Zeitgeist sich so viel zugute hält: der Humanismus ohne Gott, nichts weiter als menschlich kostümierte Bestialität.

Fazit: Ein Buch, das beim Leser solche (oder vergleichbare) Funda-mental-Erwägungen hinterläßt, lebt eben schon deshalb über das Jahr hinaus: lebt nämlich mit dem Leser mit.

Doch nun kommt noch der Clou des Ganzen: Es liest sich so spannend wie ein Kriminalroman.

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