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Weder Hexe noch eine Fee

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Wie die ohrenbetäubende Reklame unserer Zeit, so neigt auch die Presse dazu, sich selbst überschätzend, zu statuieren, daß sie gleichermaßen die öffentliche Meinung ist und sie hervorbringt, indes sie sie zumeist nur ungenau widerspiegelt, oft genug übertreibt und zuweilen karikiert.

Doch noch fragwürdiger als das Axiom vom diabolisch manipulierten Menschen ist die allgemein verbreitete Auffassung, daß die Presse das politische Bewußtsein der Leser monopolistisch forme

und deren Stellungnahme zur Tagespolitik entscheidend beeinflusse.

Die Presse der Weimarer Republik war keineswegs nazistisch, die einflußreichsten Blätter nahmen bis zum Sommer 1932 und manche bis zum Januar 1933 ganz entschieden Stellung gegen Hitler.

Die meisten Naziwähler lasen somit Zeitungen, die nicht für die NSDAP, sondern in der überwiegenden Mehrheit eindeutig gegen sie waren. Ähnliches galt für kommunistische Wähler. Sie waren überall in der Welt Käufer von nicht- oder antikommunistischen Zeitungen.

Im Frühjahr 1936 führte fast die ganze Pariser Presse, an ihrer Spitze „Paris-Soir“, ein Boulevardblatt mit Millionenauflage, eine wütende Hetzkampagne gegen die sich damals formierende Volksfront. Die Pariser Arbeiter und Angestellten hörten aber keineswegs auf,„Paris-Soir“ und die gleichgesinnten Blätter - sozusagen für ihr Gemüt - zu lesen, doch stimmten sie in zwei Wahlgängen gegen die von diesen Organen befürwortete Politik.

Dieser unerklärliche Widerspruch löst sich auf, sobald man untersucht, was die Leser in ihrem Blatt wirklich zu finden wünschen. Sie wollen darin nur selten, gleichsam en passant, einer möglichst kurz ausgedrückten Meinung begegnen, aber nicht Meinungen suchen sie, sondern die Befriedigung ihrer Neugier.

Sie erwarten Berichte über Taten und Geschehnisse, die auf der Talsohle ihres unbesiegbaren Alltags wie fiktive Hügel eine Stunde lang oder vielleicht bis in den Traum dekorativ hervorragen und die wie buntfarbiges Feuerwerk das ewige Einerlei verzaubernd illuminieren …

Mit seltenen Ausnahmen appelliert die Presse, besonders die Boulevardzeitungen, nur scheinbar an die Gesinnung. Sie übt aber ihre stärkste, beeinflussende Wirkung auf den Geschmack und nicht auf den Geist der Lesergemeinde aus. Darin ist sie Erzieherin des Volkes und seine Verführerin. So hat in einem freien Land jede Lesergruppe die Zeitung, die sie wünscht und die sie verdient.

Nirgends in der Welt, in keiner wie immer gearteten Gesellschaftsordnung, kann ein politischer Artikel mit einem Bericht über ein besonders schlau ausgehecktes Verbrechen, über einen Sittenskandal oder über bestimmte Sportereignisse konkurrieren.

Und das ist nicht die Folge verruchter Machinationen, Manipulationen oder antisozialer Verdrängungen, sondern hat viel mehr mit der existentiellen Schwierigkeit des Menschen zu tun, auf dieser Erde, in diesem seinem einzigen Leben heimisch zu werden.

Ein beweiskräftiges Beispiel: Sechzig Jahre nach der Oktoberrevolution zieht der überwiegende Teil des Moskauer Publikums amerikanische und sonstige Liebes- und Abenteuerfilme politischen Filmen vor.

Wenn die Presse weder eine Hexe noch eine Fee ist, wenn sie den Geist des Lesers keineswegs formen kann wie der Töpfer den Ton in seiner Hand, so bleibt andererseits unbestreitbar, daß sie auf das Gemüt der Leser weit stärker wirkt als auf deren Denkweise und daß sie die Bildung des Geschmacks fortgesetzt beeinflußt.

Was die Presse tatsächlich erzeugt, das sind Urteile über Menschen, über deren Taten und deren Werke. Zeitungen treten auch als Sittenrichter auf, am unerbittlichsten natürlich jene, die vom Skandal leben, den zu bekämpfen sie vorgeben, indes sie ihn oft genug selbst hervorrufen.

Die Musik-, Theater-, Kunst- und Buchkritiker richten leider weit mehr, als sie berichten, und nicht immer mit Sachverstand und Sachkenntnis…

Ohne Wahrheit kann die Freiheit, ohne Freiheit kann die Wahrheit nicht bestehen.

Die Presse ist weder mächtig noch ohnmächtig. Sie ist gut oder schlecht. Sie ist gut, wenn sie die Reifung des Willens zur Freiheit ausnahmslos aller fördert und den Mut zur Wahrheit unter allen Umständen bewahrt und bewährt.

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