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Weder-noch-Philosophie

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Der Autor Ota Sik, gebürtiger Tscheche, Jahrgang 1919, derzeit Hochschulprofessor in der Schweiz, wendet sich mit seinem soeben erschienenen Werk „Der dritte Weg“ an unzählige Menschen in aller Welt, für die jetzt die gefährliche Spätkrise im Konflikt Kommunismus— Kapitalismus das Schicksal ist. Der frühere revolutionäre Marxist und nunmehrige akademische Lehrer für Nationalökonomie setzt sich, wie er im Untertitel seines Werkes aufzeigt, einerseits mit der marxistisch-leninistischen Theorie und anderseits mit dem entideologisierten Industriesystem kritisch auseinander. Der Wert dieser seiner theoretischen Ausführungen, die er in jenem klaren und präzisen Deutsch schreibt, das von jeher die Konzepte gebildeter Tschechen auszeichnet, wird noch bei weitem von dem Ertrag aus den Erfahrungen des böchst dramatischen Lebenslaufes, den Sik zu spüren bekam, und der im Text transparent ist, übertroffen.

Nach Herkunft und Anschauung Sozialdemokrat in der Ära der CSR vor 1938/39, erlebte Sik im KZ des Dritten Reiches das Sterben seiner Jugendfreunde. Sein ungebrochener Wille, zur „Überwindung der Klassengesellschaft, zur Befreiung arbeitender Menschen von jeder ökonomischen Knechtung“ und zur „kommunistischen Vergesellschaftung“ weiterhin beizutragen, führte Sik, wie er meint, zum konsequenten Übergang zum Kommunismus. Nach 1945 erlebte der in einer kommunistisch regierten CSSR die dortige Ära des Stalinismus und aufs neue den unverdienten Tod vieler seiner Gesinnungsfreunde, die nunmehr Opfer jener wurden, die einmal der NS-Terror ausrotten wollte. Ende der fünfziger Jahre machte sich Sik auf die Suche nach „neuen Gedanken und Wegen“. 1968 gehörte er zu jenen Kommunisten, die den Prager Frühling herangezwungen haben. In der Ära Duböek wurde Sik stellvertretender Ministerpräsident. Und jetzt zieht der Exiltscheche die Konsequenz aus dem gescheiterten Versuch der Männer des Prager Frühlings, die kommunistische Kommandowirtchaft in der CSSR zu überwinden, das von der westlichen Nationalökonomie entwickelte, angeblich auch für kommunistische Staaten geeignete Industriesystem einzuführen, dabei aber der marxistisch-leninistischen Lehre treu zu bleiben.

Für Sik ist der einzig gangbare Weg zwischen den Kontrollmächten in Ost und West sein „Dritter Weg“ eines „demokratischen und humanen Sozialismus“.

Für österreichische Verhältnisse hat das Werk Siks wahrscheinlich mehr praktische Bedeutung als für jedes andere Land der freien Welt. Denn hierzulande ist die bekannte Wirtschaftsrechnung der Nationalökonomien der zwanziger Jahre seit 1945 in dem Sinne zu Ende geführt worden, daß

• ein Kombinat, bestehend aus einem aufs höchste entwickelten Staatskapitalismus und einer „Partnerschaft“ der Arbeitgeber und Produzenten mit den Arbeitnehmern und Konsumenten, die bisherigen klassischen Modelle einer freien Marktwirtschaft und eines freien Unternehmertums fast obsolet gemacht hat.

Dazu kommt, daß, insbesondere in den Ballungsräumen, die Gebiets körperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) sowie die von diesen und den öffentlichen Verbänden geschaffenen gemischten wirtschaftlichen Unternehmungen mehr und mehr Eigentum an Grund und Boden erwerben und mittels der ihnen gehörenden Geldinstitute eine fast lückenlose Kontrolle über das Kapital ausüben können.

Diesem im Falle Österreich mit einem gebildeten und duldsamen Pragmatismus erreichten Zustand einer „Kompromißlösung“ geht bis dato noch die Ultima ratio einer theoretisch erfaßten Gesamtlösung im Sinne der innewohnenden Linksideologie ab. Wer bei Sik nachliest, wird besser wissen, wqran er ist. Im übrigen markiert Sik seinen Weg an folgenden vier Punkten:

1. Überwindung der im Kapitalismus, auch im Staatskapitalismus, systembedingten Interessentengegensätzlichkeiten durch eine „demokratische Sozialisierung“.

2. Gleichsetzung der Produzenteninteressen mit den Nichtproduzen-teninteressen als Voraussetzung einer „demokratisch markt-ökono-mischen Orientierungsplanung“.

3. Beibehaltung der Gundfunktion des Marktes.

4. Vertiefung der „politischen Demokratisierungselemente“, insbesondere im Wege einer paritätischen Vertretung von Nichtproduzenten-interessen, mit dem Ziel einer „sachlichen Gesellschaftsänderung“.

Für Sik ist Sozialismus ein „reales Entwicklungssystem“. Nach seinen Erfahrungen ist jeder Versuch einer Minderheit, die „wirkliche sozialistische Idee“ gewaltsam einer Mehrheit aufzuzwingen, notwendigerweise zum Scheitern verurteilt; es sei denn, er mündet in eine diktatorisch geübte Machtausübung. Sik stellt sich folgerichtig gegen jüngste „Versuche jugendlicher Gruppen“, die ohne „überzeugende positive Vorstellungen“ von den Interessen der Arbeiter diese für gewisse Kampfziele engagieren möchten.

Unmerklich verläßt Sik dort den Boden der von ihm angestrebten ideologiefreien Sachgerechtigkeit, wo jjen seine Vorstellung, von einer „wirklichen sozialistischen Idee“ und von einem Sozialismus als „reales Entwicklungssystem“ ins Treffen führt und seine diesbezüglichen Ausführungen eher einen ideologischen als wissenschaftlichen Charakter bekommen. Der Autor kündet eine Fortsetzung und den Abschluß vorliegenden Werkes in seinem nächsten Buch „Das Modell eines demokratischen und humanen Sozialismus“ an. Sosehr Sik mit eindeutiger Klarheit das Einparteiensystem leninistischer Prägung verurteilt, sosehr bleibt er anderseits jeden konkreten Hinweis auf einen politischen Pluralismus als Voraussetzung für Demokratie und Humanität schuldig.

Gerade in diesem Punkt mußte aber seinerzeit das System Dubcek und Genossen nicht nur das begründete Mißtrauen, sondern die prinzipielle Gegnerschaft derer herausfordern, die keine Sozialisten sind und um den Monismus, der jeder Form des Sozialismus innewohnt, Bescheid wissen. Und so hat denn auch der Prager Frühling nur für die engagierten Parteigänger des dort versuchten „wirklichen Sozialismus“ einige Freiheit gebracht; für den „Rest“ aber die Gefahr einer neuerlichen fatalen Abhängigkeit von einem Totalitarismus der Linken, der in diesem Fall den Andersdenkenden zwar KZ und Tod ersparte, im übrigen aber nur für Kollaborateure Honorare und Pfründen bereithielt. Das aber ist zuwenig Freiheit. Selbst dann, wenn der von Sik aufgezeigte Weg im Falle Österreich dank der oben geschilderten Prozedur asymptopisch an denselben Punkt herankommen würde. Die wirtschaftspolitischen Ereignisse in Österreich an der Wende 1972/73 ließen bereits in Umrissen erkennen, wie der legendäre „Kammerstaat“ der Ära Raab in ein „System der Partnerschaft“ als Abstützung der Regierung eines sozialistischen Österreich funktionieren kann.

DER DRITTE WEG: Die marxistisch-leninistische Theorie und die moderne Industriegesellschaft. Von Ota Sik. Hoff mann und Campe, Hamburg. 1972. 450 Seiten.

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