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„Weder Öffnung noch Sperre“

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lm Frühjahr 1985 verstarb Albaniens Langzeit-Herrscher Enver Hodscha und übernahm Ramiz Alia das Staatsruder. Wohin steuert das Land seither? Dazu zwei Berichte: eine Analyse der Außenpolitik Tiranas und der Lokalaugenschein eines FURCHE-Mitarbeiters.

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lm Frühjahr 1985 verstarb Albaniens Langzeit-Herrscher Enver Hodscha und übernahm Ramiz Alia das Staatsruder. Wohin steuert das Land seither? Dazu zwei Berichte: eine Analyse der Außenpolitik Tiranas und der Lokalaugenschein eines FURCHE-Mitarbeiters.

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Im Außenministerium in Tirana wird die Warteliste hochkarätiger Politiker und Wirtschaftskapitäne aus Europa immer länger. Die bisher wenig beachtete und sich selbst isolierende Volksrepublik an der Adria gewinnt an Anziehungskraft. Der kurz zurückliegende Besuch des französischen Staatssekretärs Jean Claude Bailee wurde deshalb von interessierten Staatskanzleien als eine Art Test für die Außenpolitik Albaniens angesehen.

Das Ergebnis der Reise des französischen Diplomaten nimmt sich dagegen eher bescheiden aus: Tirana bleibt dem Kurs des Schöpfers des kommunistischen Albanien, Enver Hodscha, treu, der im Frühjahr 1985 verstorben ist. Albanien wünscht keine Annäherung an die Supermächte. Zwischen den Imperialisten in Washington und den Sozialimperialisten in Moskau macht es nach wie vor keinen Unterschied, obwohl sich der Kreml unverdrossen um Kontakte zur neuen Führung in Tirana bemüht.

Die Kontakte zu den Nachbarstaaten und einer Reihe europäischer Staaten will Tirana dagegen fortsetzen, verbessern oder neu aufnehmen, sollen höchste albanische Gesprächspartner dem Franzosen versichert haben. Das deckt sich mit der ersten programmatischen Rede des neuen albanischen Parteichefs, Ramiz Alia, die er vor kurzem in der Stadt Korce gehalten hat.

Dort hatte Ramiz Alia erklärt, „daß man nicht gut Freund mit

Staaten sein könne, die mit ihrer atomaren Überlegenheit der Welt ein Ende androhen“. Frankreich, das über eine eigene Atombombe verfügt, aber nicht im militärischen Teil der NATO mitmacht, scheint aus Tiranas Sicht die Ausnahme zu sein. Frankreich ist auch der einzige der vier Alliierten, der seit dem letzten Krieg eine Botschaft in Tirana unterhält, und über Paris wurden auch die ersten politischen Fäden aus Tirana zu anderen europäischen Staaten geknüpft.

Trotz der Okkupation Albaniens durch Italien und seine staatliche Annexion unterhält Tirana heute zu Rom engste wirtschaftliche Bindungen. Wenn sich also Ramiz Alia in Korce gegen eine „Öffnung der Grenzen“ Albaniens ausgesprochen hat, kann dies nur wörtlich und nicht als völkerrechtliche Isolierung interpretiert werden. Albanien ist schon mangels einer entsprechenden Infrastruktur nicht zu einer Öffnung der Grenzen in der Lage und schon gar nicht zu unausweichlichen Konsequenzen, wie etwa freizügige Reisen.

Außenpolitisch ist Tirana aber jedenfalls aktiver, als es den Anschein hat. Zum Beispiel zeigen dies die laufenden Gespräche mit London über die Modalitäten der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen.

Auch mit Bonn führt Tirana sporadisch in Wien und Belgrad Gespräche, wobei die horrenden Reparationsforderungen bisher ein unüberwindliches Hindernis darstellten. Abgesehen von der indiskutablen Höhe der albanischen Vorstellungen, vertritt Bonn auch gegenüber Albanien den bekannten Standpunkt, daß solche einem Friedensvertrag mit Deutschland vorbehalten bleiben müssen.

Der Zugang Tiranas zu außenpolitischen Problemen war letztlich aber immer überraschend pragmatisch, so daß eine plötzliche Sinnesänderung nicht überraschen sollte. Seine ungewöhnliche Flexibilität hat Tirana während der letzten vierzig Jahre mit den Brüchen mit Jugoslawien, dann mit Moskau und letztlich mit China vorexerziert. Mit Athen schien das Verhältnis noch vor knapp einem Jahr feindselig. Zu Jahresbeginn wurde ein neuer Straßenübergang eröffnet, und das griechische Parlament berät über eine Beendigung des seit 1941 mit Albanien herrschenden Kriegszustandes.

Selbst der in schrillsten Tönen zwischen Albanien und Jugoslawien geführte Propagandakrieg wegen der Lage der Albaner in der jugoslawischen Provinz Kosovo ist für Tirana kein Hindernis zum stetigen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Nachbarland, auch wenn Ramiz Alia Belgrad vorgehalten hat, durch eine anhaltende antialbanische Politik das freie Albanien in eine jugoslawische Kolonie verwandeln zu wollen.

Der aus dem Kosovo resultierende politische Sog ist zweifellos gegenseitig und stellt für Belgrad wie Tirana ein schwer kalkulierbares Risiko dar. Ebensogut könnte Kosovo zur Brücke zwischen Jugoslawien und Albanien werden, deren gesellschaftspolitische Ordnungen auf dem Marxismus-Leninismus basieren. An der albanisch-jugoslawischen Grenze wird jedenfalls seit dem Machtantritt Ramiz Alia nicht mehr scharf geschossen.

Noch im Monat September soll die feierliche Inbetriebnahme der Eisenbahrüinie Skodra — Titograd erfolgen. Sie wird nicht nur die Nachbarn Albanien und Jugoslawien verbinden, sondern schließt Albanien erstmals an das europäische Eisenbahnnetz an. Dem direkten Schienenstrang in Richtung Europa könnte symbolhafte Bedeutung beikommen. Letztlich ist der Schienenstrang eine Konsequenz der ökonomischen Entwicklung Albaniens, die Ramiz Alia als Beispiel für eine „gelungene Umgestaltung von einem rückständigen Agrarland in ein autarkes, aufstrebendes Industrieland“ hinstellte.

Modernisierung und Industrialisierung bringen aber auch Zwänge mit sich, die trotz aller Isolationsparolen zur internationalen Arbeitsteilung führen; noch mehr eine junge technische Intelligenz, die während der letzten drei Jahrzehnte an der Wirtschaftsuniversität in Tirana und mehreren polytechnischen Schulen herangezogen wurde. Diese Armee junger Intellektueller wird sich auf Dauer kaum mit der Rolle von Exporteuren von Rohstoffen und Halbstoffen begnügen.

Ramiz Alia dürfte bei seiner orakelhaften Feststellung in der Rede von Korce, derzufolge „es weder eine Öffnung noch eine totale Sperre der Türen Albaniens geben werde“, die inneren Ent-wicklungszwänge und die äußeren .Notwendigkeiten Albaniens im Auge gehabt haben.

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