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Weder Opa- noch Damenwahl

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„Deutschlands schlafender Riese“ soll erwachen. Das verkünden seit einigen Tagen bunte Plakate im Coca-Cola-Werbestil in der Bundesrepublik. Was nach einer Mischung von Getränke- und Waschmittelreklame aussieht, wendet sich an die Jungwähler der Bundestagswahl 1972 und wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund initiiert. Zielgruppe der Kampagne sind die Jungwähler, die bei dieser Wahl in einem noch nicht dagewesenen Maße zumindest numerisch ins Gewicht fallen. Von 40,6 Millionen Wahlberechtigten sind 4,8 Millionen Erstwähler. Diese Verdoppelung gegenüber 1969 — damals waren es 2,4 Millionen — rührt davon, daß in der Zwischenzeit das aktive Wahlalter von 21 Jahren auf 18 Jahre herabgesetzt wurde.

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„Deutschlands schlafender Riese“ soll erwachen. Das verkünden seit einigen Tagen bunte Plakate im Coca-Cola-Werbestil in der Bundesrepublik. Was nach einer Mischung von Getränke- und Waschmittelreklame aussieht, wendet sich an die Jungwähler der Bundestagswahl 1972 und wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund initiiert. Zielgruppe der Kampagne sind die Jungwähler, die bei dieser Wahl in einem noch nicht dagewesenen Maße zumindest numerisch ins Gewicht fallen. Von 40,6 Millionen Wahlberechtigten sind 4,8 Millionen Erstwähler. Diese Verdoppelung gegenüber 1969 — damals waren es 2,4 Millionen — rührt davon, daß in der Zwischenzeit das aktive Wahlalter von 21 Jahren auf 18 Jahre herabgesetzt wurde.

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Kein Wunder, daß diese Wählergruppe bei den Parteien, die in zunehmendem Maße von der Angst, auch nach den Wahlen ein politisches Patt im Bundestag vorzufinden, geplagt werden, besondere Beachtung findet. Die größeren Hoffnungen auf die Jungwähler machte sich früher die SPD. Gewisse demoskopische Erhebungen, die Auswertung von Wahlergebnissen, aber auch die Vorstellung, daß ein fortschrittlich-jugendliches Image, über das die Sozialdemokraten eher als die Christdemokraten verfügen, bei den Jugendlichen gut ankommt, nährten die Hoffnungen. Die Landtagswahlen der vergangenen Jahre zwangen jedoch zum Umdenken. Die Analyse „Jugend und Politik 71“ des Meinungsforschungsinstitutes Infratest ergab: Zwischen dem Wahlverhalten der Erwachsenen und der Jugendlichen besteht große Ähnlichkeit. Ihre politischen Einstellungen differieren nur unwesentlich.

Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch soziologische Untersuchungen über Jugendliche, die gerade für das Alter zwischen 18 und 21 noch eine starke Abhängigkeit von der Einstellung des Elternhauses feststellen. Weitere Erhebungen kamen zu dem nicht überraschenden Schluß, daß auch bei Jugendlichen eine Abhängigkeit des politischen Denkens von Schulbildung und sozialem Umfeld zu bemerken ist. Eine weite Verbreitung faschistischen Gedankenguts bei zahlreichen Volksschulabsolven-ten paßt ebenso in dieses Bild wie die nahezu eindeutige Dominanz linker Gruppen an den Hochschulen.

Trotzdem konzedieren ein um 10 Prozent besseres Abschneiden die Meinungsforscher den Koalitionsparteien bei den jugendlichen Wählern gegenüber den Erwachsenen. Während einige Wahlpropheten daraus einen Vorteil für SPD und FDP ausrechnen, meinen andere, daß dies durch die gestiegene Zahl der alten Wähler ausgeglichen wird.

Die ältere Generation aber tendiert in der Bundesrepublik — im Gegensatz etwa zu den treuen Pensionisten-Kohorten der SPÖ — zu CDU und OSU. Hier dominieren bei den Wechselwählern dieser Altersgruppe, die nicht durch Gewerkschaftsvergangenheit oder katholisches Milieu ohnedies eindeutig vorgeprägt sind, Konservativismus und Ordnungsdenken über das Gruppeninteresse als Rentner. Selbst wo dieser Zwiespalt noch vorhanden gewesen sein mag, könnte ihn die CDU/CSU durch ihre letzte parlamentarische Aktion, die der Verabschiedung eines opulenten Rentenpakets galt, ausgeräumt haben. Ren-tenerlhöhungen von rund 10 Prozent verbunden mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze mögen zwar in späteren Jahren auch den Haushalt einer etwaigen CDU/CSU-Regierung belasten. Momentan sind sie aber für diese Parteien eine wichtige Hilfe, um wieder die Verfügungsgewalt über den Etat zu gewinnen. Nicht ohne Grund war der potentielle CDU-Sozialminister Hans Katzer ein Zugpferd des Wiesbadner Parteitags.

Positiv für die Christdemokraten und Ohrsiüichsozialen kommt noch hinzu, daß unter den alten Wählern der Anteil der Frauen noch mehr als sonst über dem der Männer liegt. Auch Deutschlands Weiblichkeit sagte man bis zu den Wahlen von 1959 eine klare Präferenz der konservativen Parteien nach. Die CDU trug dem schwachen Geschlecht, das mit 21,8 Millionen Wahlberechtigten — 2,8 Millionen mehr als bei den Männern — beimerkenswert stark ist, damals auch mit dem „schönen Bundeskanafler“ Kiesinger Rechnung.

Im Anschluß an die Bundestagswahl von 1969 verkündete dann Demoskopiepäpstin Noelle-Neumann aus Allensbach allerdings, daß die Frauen die Wahl zugunsten der SPD-FDP-Koalition entschieden hätten. Gegenüber 36 Prozent SPD-Wählerinnen bei den vorangegangenen Bundestagswahlen waren es 1969 mehr als 40 Prozent. Dennoch lag der Anteil der CDU-CSU-Wählerinnen über dem der Wähler und bei der SPD verhielt es sich umgekehrt. Wenn sich hier auch ein Wandel anzubahnen scheint, der ähnlich wie bei den Jungwählern durch Änderung der Bildung und der Information bedingt sein dürfte, bleibt doch bestehen, daß Frauen mit zunehmendem Alter sichere CDU-OSU-Wähler werden.

Weder bei den Jungwählern noch bei den Alten, aber auch nicht bei den Frauen wagen es die Parteien, massiven Werbeeinsatz zu betreiben, so geschlossene und zahlenmäßig bedeutsame Wählergruippen es auch sein mögen. Gibt sich eine Partei zu jugendlich, so verprellt sie leicht ihre Stammiwähler, stellt sie sich als Partei der Alten heraus, so erhält sie den Stempel der „Opa-Partei“. Umwirbt sie die Frauen zu heftig, so verstößt sie leicht gegen die eigenen Beteuerungen über die Gleichberechtigung der Geschlechter. Weder Rentnerwahlen oder eine Damenwahl, aber auch kein Wahlentscheid durch den „schlafenden Riesen“ Jugend steht also der Bundesrepublik ins Haus.

So vermeiden es die Parteien auch, sich mit einer Gruppe besonders zu identifizieren und verfolgen allgemein die Taktik, keine dieser Gruppen zu mißachten und sich jeder als wählbar darzustellen. Dies liegt auf der generell in diesem Wahlkampf zu beobachtenden Linie, daß die Parteien also den verschiedenen Wählerschichten gleichzeitig nach dem Mund zu reden versuchen. Die SPD bietet den rechten Leber ebenso an wie den linken Eppler. Bei der FDP soll ein Genscher die Law-and-Order-Wähler ködern und eine Hamm-iBrücher aufgeklärte Bürger durch Entwürfe für moderne Bildungspolitik gewinnen. Die Opposition hat konservative Männer wie Strauß und Dregger ebenso zu bieten wie einen Barzel als Mann der Mitte und einen Katzer oder Blüm als Kämpfer für sozialen Fortschritt.

Es dürfte weniger darauf ankommen, welche der Parteien eine der wichtigsten Wählergruppen, wie Jugend, Frauen und alte Menschen, anspricht, sondern welche alle zugleich für sich gewinnt. Nur wem dies gelingt, der kann hoffen, nach dem 19. November über eine qualifizierte Mehrheit im Bundestag zu verfügen.

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