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Weder Rousseau noch Musical

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Ein neues Schlagwort wurde geboren: das Wort von der Energielücke. Nun treten zwar, vor allem in den USA, gelegentlich bereits Engpässe auf, aber von einer allgemeinen Knappheitssituation in der Welt ist vorläufig noch nicht die Rede. Vorläufig; aber es heißt wachsam sein.

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Ein neues Schlagwort wurde geboren: das Wort von der Energielücke. Nun treten zwar, vor allem in den USA, gelegentlich bereits Engpässe auf, aber von einer allgemeinen Knappheitssituation in der Welt ist vorläufig noch nicht die Rede. Vorläufig; aber es heißt wachsam sein.

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Freilich, der Katzen Jammer konnte nach dem Wachstumsrausch der letzten Dezennien nicht ausbleiben. Aber während auf der einen Seite düstere und zum Teil gewiß übertriebene Prognosen uns erschauern machen, wird die ökonomische Praxis nach wie vor von der Wachstumsideologie beherrscht, in den sozialistischen Staaten genauso wie in den kapitalistischen.

Die Wachstumsideologie geht von der Fiktion unbeschränkter Ressourcen aus, wobei als selbstverständlich angenommen wird, daß — sollte wirklich ein Rohmaterial knapp werden — die Menschheit sofort einen Ersatzstoff parat hat, daß also eventuelle Mangelerscheinungen nichts als ein heilsamer Schock sind, um die Erfindungsgaben der Menschheit zu mobilisieren, die dann auch prompt Abhilfe schaffen. Dieser naive Fortschrittsglaube erhielt allerdings in den letzten Jahren starke Dämpfer, so daß heute die pessimistischen Stimmen die optimistischen langsam zu übertönen drohen.

Um zu einem objektiven Bild zu gelangen, müssen wir versuchen, uns von allem jenen Wunschdenken freizuhalten, das sowohl hinter dem Optimismus wie auch hinter dem Pessimismus steht. Wer von einer Zukunft mit immer perfekterer Technik träumt, inkliniert zu einer Fortschrittseuphorie, die alle Schwierigkeiten minimalisiert. Hingegen stellt für alle jene, die in irgendeiner Form eine „natürliche“ Welt wünschen, der Zukunftspessimismus eine Versuchung dar.

Die „Natürlichen“ sind übrigens eine sehr gemischte Gesellschaft; sie reichen von den „Reaktionären“, die der guten alten Zeit, der heilen Welt der Bescheidenheit und des Glücks im Winkel nachtrauern, bis zu jenen Blumenkindern, die sich als radikalprogressiv verstehen und den Fortschritt darin sehen, daß sie aus der Zivilisation „austreten“, um die Welt in ein einziges großes „South-Paci-fic“-Musical zu verwandeln, und die sich ein für allemal vom „Leistungsdruck emanzipieren“ wollen.

Beide Haltungen sind letztlich falsch: eine Rückkehr in die Vergangenheit — mag nun die geordnete Bürgerwelt von gestern oder eine Rousseau-Welt der „edlen Wilden“ gemeint sein — ist unmöglich. Doch ebensowenig haben wir einen Garantieschein für den permanenten Fortschritt in der Tasche, die Sicherheit,daß die menschliche Kreativität mit allen Zukunftsschwierigkeiten fertig werden und es uns zwangsläufig immer besser gehen muß.

Frühere Langzeit-Prognosen konzentrierten sich meist auf das Problem der Nahrungssicherung. Erst mit der Zeit rangen sich die Futurologen zur naheliegenden Erkenntnis durch, daß eine maximale Lebensmittelproduktion nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern daß dahinter eine intakte und potente Technik und Industrie stehen müssen. Immer neue Probleme rückten in den Gesichtskreis: die Versorgung der Industrie mit Rohmaterialien, die Abfallbeseitigung, die Umweltverschmutzung und vor allem das Problem der Energieversorgung. Denn Energie ist letzten Endes jener Faktor, der die ganze moderne Welt in Gang hält: Rohmaterialien können substituiert werden, Nahrungsmittel in Spezialkulturen auf engstem Raum im Höchstmaß produziert werden — aber alles das wird in dem Moment unmöglich, in dem nicht genügend Energie zur Verfügung steht, um die technischen Prozesse in Gang zu halten.

Die Energiequellen reichen bekanntlich vom traditionellen Holzscheit, das man in den Ofen steckt, bis zur Elektrizitätsgewinnung im Kernkraftwerk. Die dominante Energiequelle für Heiz- und Antriebszwecke war im 19. Jahrhundert die Kohle; in unserem Jahrhundert, insbesondere seit der Jahrhundertmitte, ist es das Erdöl, zunehmend ergänzt durch die verwandte Energiequelle des Erdgases.

Mineralölderivate dienen nicht nur als Treibstoff für Motoren, sondern auch für Heizzwecke und zur Stromerzeugung, bei der sie, global gesehen, gleichfalls eine viel größere Rolle als etwa die spektakulärere Wasser- oder Atomkraft spielen. Aus den internationalen Statistiken der UNO ist der imposante Siegeszug des Erdöls deutlich abzulesen: der Weltenergiebedarf wurde 1920 noch zu 86 Prozent mit festen Brennstoffen, nur zu 9 Prozent mit Erdöl und nur zu 2 Prozent mit Erdgas gedeckt; 1971 entfielen auf feste Brennstoffe 21 Prozent, auf Erdöl 54 Prozent und auf Erdgas 18 Prozent, das damit die Kohle fast schon eingeholt hat.

Weit abgeschlagen rangiert 1971 die Wasserkraft, die nur mit 6 Prozent zum Weltenergiebedarf beitrug. 1920 hat ihr Anteil 3 Prozent betragen und hat sich seither verdoppelt. Absolute Zahlen sind auf den ersten Blick eindrucksvoller: der gesamte Weltenergiebedarf ist von 830 Millionen Tonnen öläquivalent im Jahr 1920 auf 3,63 Milliarden Tonnen im Jahr 1971 gestiegen, hat sich also verviereinhalbfacht; das bedeutet, daß sich das Dargebot an Wasserkraftenergie absolut verneun-facht hat.

Gewiß eine imponierende Zahl; aber neben dem relativen Anstieg auf das Sechsfache und dem absoluten auf das 27fache bei Erdöl, sowie auf das Neunfache beziehungsweise 40fache bei Erdgas, nimmt sie sich eher bescheiden aus.

Auch die Zukunft der Wasserkraft dürfte sich nicht gerade sensationell entwickeln, nachdem sie ihre (relativ) größte Zeit schon 1960 mit der Deckung von 7 Prozent des Welt-ernergiebedarfs hatte. Bis 1985 wird es ihr — trotz forcierten Ausbaues — auf Grund der Langzeit-Prognose nur gelingen, ihren derzeitigen 6pro-zentigen Anteil zu halten. Allerdings wird in den bloß 15 Jahren von 1970 bis 1985 bereits eine Verdopplung des gesamten Energiebedarfs erwartet, während er sich in den vorhergegangenen 50 Jahren „nur“ verviereinhalbfacht 'hat.

Recht bescheiden nimmt sich im Weltenergiebild der Anteil der Atomkraft aus: freilich, im Wachstumsvergleich kann sich diese sehen lassen; ihr Anteil an der Weltenergie-versorgung hat sich von 1960 auf 1971 mehr als verdreißigfacht — allerdings hat die Ausgangsbasis 0,03 Prozent betragen, so daß 1971 erst 1 Prozent des internationalen Bedarfs mit Atomkraft gedeckt wurden Von einer „Atomisierung“ unserer Energieversorgung sind wir also noch weit entfernt.

Auf Grund der heute bestehenden ambitiösen Pläne für den Bau von Atomkraftwerken rechnet man bis 1985 mit einer Deckung von 10 Prozent des Energiebedarfs aus dieser Quelle; das reicht gerade, um den erwarteten relativen Rückgang des Anteiles der festen Brennstoffe auf 14 Prozent zu kompensieren. Atomkraft wird aber immerhin die einzige Energiequelle sein, die ihren Anteil vergrößert, während auch Erdöl und Erdgas sich bestenfalls parallel zum Gesamtbedarf entwickeln werden. Nach 1985 wird freilich die Atomenergie einen weitaus größeren Anteil bei der Energieversorgung übernehmen müssen, soll keine Energielücke entstehen.

Hier beginnt die Sache problematisch zu werden. Mag schon eine absolute Verzwanzigfachung des heutigen Standes an Atomkraftwerken bis 1985 bedenklich erscheinen, so kann beim heutigen Stand der Technik die weitere Entwicklung eine ernste Gefahr bergen: wohin mit den radioaktiven Abfällen und mit dem erhitzten Kühlwasser? Würden die seit langem verheißenen und noch immer nicht wirtschaftlich funktionierenden „Sohnellen Brüter“ in einigen Jahren einsatzbereit, wären wohl einige, nicht aber alle Probleme gelöst. Bis heute haben wir langfristig jedenfalls noch nicht die Antwort auf die Frage, wie die Energielücke vermieden werden kann.

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