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Weg zum Syndikalismus? q

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Wie immer die Nationalratswahlen ausgehen werden, so meinte vor kurzem gesprächsweise ein Zeitkritiker, der Sieger steht heute bereits fest: die Gewerkschaften.

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Wie immer die Nationalratswahlen ausgehen werden, so meinte vor kurzem gesprächsweise ein Zeitkritiker, der Sieger steht heute bereits fest: die Gewerkschaften.

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Dies mag überpointiert klingen, enthält aber einen wahren Kern: Heute kann — und dies wird auch von Gewerkschaftsseite immer wieder unterstrichen — niemand in den westlichen Demokratien gegen die Gewerkschaften regieren. Sie sind zum zweiten Machtzentrum neben dem Parlament, ja oft über diesem geworden >— die meisten von dessen Entscheidungen sind in den Gewerkschaftszentralen vorprogrammiert.

Die einen sehen darin eine Unterminierung und Bedrohung der Demokratie, die anderen deren Vollendung. Eine Antwort auf diese Frage zu versuchen ist müßig, ja es handelt sich hier um ein typisches Beispiel für das, was für Wittgenstein „sprachbedingte Scheinkon-flikte“ waren: die Antwort hängt von der jeweiligen Definition der Demokratie ab, die je nach Standpunkt stark divergiert.

Fest steht, daß sowohl das Demokratiekonzept wie auch die Auffassung von der Funktion der Gewerkschaften in den letzten Dekaden starken Änderungen und Revisionen ausgesetzt war. Dies vollzog sich schrittweise und stillschweigend, für viele unbemerkt, aber dafür um so nachhaltiger.

Im Demokratiekonzept rücken Parlament und Repräsentation immer mehr aus dem Zentrum an die Peripherie, sie werden vom Postulat einer „spontanen“, „direkten“ Demokratie überlagert — und dies keineswegs nur bei Jusos, Anarchisten und Kommunisten. Wohl sind es diese, welche besonders lautstark die „direkte“ Demokratie fordern, aber ihre Umfunktionierung des traditionellen Demokratiekonzepts findet bemerkenswert wenig Widerspruch. Was für Gefahren jedoch aus einem derart konfusen Demokratiebegriff entstehen können, wird heute wieder in Portugal evident.

Auch die Einstellung zu den Gewerkschaften, speziell deren Selbstverständnis, ist starken Wandlungen unterlegen. So drängte z. B. der heute bereits legendäre deutsche Gewerkschaftspräsident der Nachkriegszeit, Hans Böckler — ein Pendant zu Johann Böhm — nach 1945 bei den Besatzungsmächten auf Wiederzulassung von Arbeitgeberverbänden. Sein Argument: ohne private Arbeitgeber werde die Gewerkschaft funktionslos, sie käme in Gefahr, mit ihren sozialen Forderungen in direkte Konfrontation mit der politischen Macht des Staates zu geraten.

Ein Viertel Jahrhundert später erklärte der Vorsitzende der IG Chemie, Hauenschild, die Gewerkschaften könnten zwar in absehbarer Zeit das privatkapitalistische Wirtschaftssystem nicht total zum Verschwinden bringen, sie könnten aber eine „schrittweise Überwindung der kapitalistischen Ordnung“ durch „demokratische Kontrolle“ anstreben. Nicht „Enteignungsmodelle“, sondern „Entmachtungsmodelle“ seien notwendig.

Hier stehen einander zwei diametral konträre Konzepte gegenüber, von denen wir das eine als sozialpartnerschaftlich, das andere als syndikalistisch bezeichnen können. Wir könnten auch vom amerikanischen und vom schwedischen Modell sprechen.

In dem einen Fall wird die Kontrolle der Wirtschaft und des Marktes innerhalb eines privatwirtschaftlichen Systems durch die „counter-vaildng powers“ — wie Galbraith sie nennt — angestrebt, im anderen Falle geht es um die Abschaffung des privaten Unternehmertums. Diese geschieht aber nicht mehr in traditioneller Fasson durch „institutionelle Expropriation“, sondern, nach schwedischem Exempel, durch „funktionelle Enteignung“. Führt die erstere zürn Etatismus, so die zweite zum Syndikalismus, zur Übernahme der wirtschaftlichen und später auch der staatlichen De-facto-Macht durch die Gewerkschaften.

Nun läßt sich nicht bestreiten, daß

die Entwicklung, besonders in der letzten Dekade, immer mehr vom sozialpartnerschaftlichen zum syndikalistischen Konzept gegangen ist. Mögen auch bei uns nicht jene radikalen Tendenzen zu beobachten sein, die heute in der Bundesrepublik und sonstwo in Westeuropa zum Tragen kommen, so ist zweifellos im österreichischen Gewerkschaftsbund — primär beim jüngeren Funktionärskorps — eine gewisse Radikalisierung gleichfalls nicht zu übersehen. Wenn beispielsweise der neue Chef der Angestelltengewerkschaft,

Alfred Daliinger, gleich nach seinem Amtsantritt programmatisch erklärte, er betrachte die Unternehmer nicht als Sozialpartner, so dürfte dies kein isolierter Ausrutscher gewesen sein, sondern die Meinung zahlreicher Funktionäre.

Mögen auch solche Verbalsignale relativ selten vorkommen, die Forderungsprogramme der österreichischen Gewerkschaften weisen in den letzten Jahren, wenn sie auch mit anderen Etiketten versehen werden, genau in Richtung Syndikalismus. Wenn auf dem diesjährigen Kongreß des Gewerkschaftsbundes Bilanz gezogen wird, so kann bereits auf beachtliche Erfolge und auf neue Markierungen in diese Richtung verwiesen werden.

So beispielsweise ist den Gewerkschaften mit dem Arbeitsverfassungsgesetz, das den Arbeitnehmern — deren Repräsentanten inoffiziell ja doch von den Gewerkschaften bestimmt werden — die Drittelparität in den Aufsichtsräten konzediert, ein gewaltiger Durchbruch gelungen. Ausdrücklich wurde betont, daß die Drittelparität nur für eine „Lernphase“ gilt und weitergehende Forderungen noch bevorstehen. Als nächster Schritt ist nunmehr die Schaffung eines zentralen Pensionsfonds nach schwedischem Muster vorgesehen, welcher unter Gewerkschaftsverwaltung stehen und massive Einflußnahme auf die Investitionen gestatten soll.

Das alles bedeutet eine fundamentale Änderung nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen Strukturen unseres Landes. Es entsteht ein Machtkonglomerat, welches der repräsentativen Demokratie durchaus seinen Willen aufzwingen kann. Damit wird der Weg ganz entschieden zu einer Demokratie völlig neuer Art beschritten, wobei die Übergänge so fließend sind, daß die Bevölkerung die Änderung vorläufig gar nicht bemerkt. Aber ist dies tatsächlich jene Demokratie, welche die Bevölkerung will?

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