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Wegbereiter von „Rerum novarum

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Wer heute die Überwindung des Marxismus feiert, sollte auch besonders des Man- nes gedenken, der im vori- gen Jahrhundert Marx be- kämpfte und dem die Ge- schichte recht gegeben hat.

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Wer heute die Überwindung des Marxismus feiert, sollte auch besonders des Man- nes gedenken, der im vori- gen Jahrhundert Marx be- kämpfte und dem die Ge- schichte recht gegeben hat.

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Vor hundert Jahren, am 8. No- vember 1890, starb in Wien ein Mann, der bedeutenden Einfluß auf die christlichsoziale Bewegung in Österreich und auf die Katholische Soziallehre hatte: Karl Freiherr von Vogelsang, geboren am 3. Septem- ber 1818 in Liegnitz/Legnica in Schlesien, heute Polen, aufgewach- sen im mecklenburgischen Dorf Altguthendorf, der seit etwa 1864 in Wien lebte. Er war ein aristokra- tischer Sozialkonservativer: Auf seinen Einfluß gehen die ersten Sozialgesetze im alten Österreich zurück, die für die damalige Zeit bahnbrechende Bedeutung hatten und zu den fortschrittlichsten So- zialgesetzen der Welt gehörten.

Karl Vogelsang war ein Konver- tit; sein Übertritt von der evange- lisch-lutherischen Kirche zum Katholizismus war ein Akt der bewußten Glaubensentscheidung. Aus diesem Grund erfolgte auch seine Übersiedlung in das katholi- sche Land Österreich. Sein Einfluß reichte weit über die Grenzen des damaligen Österreich-Ungarn hin- aus. Auf seinen Einfluß geht im wesentlichen die große Sozialenzy- klika Leos XIII., „Rerum novarum", zurück, die ein Jahr nach seinem Tode veröffentlicht wurde und West-Europa vor einer Sozialrevo- lutionären Katastrophe nach dem Muster des bolschewistischen Ex- periments verschonte.

Hundert Jahre sind also seit sei- nem Tode vergangen, und die Ge- schichte hat ihm recht gegeben gegen den härtesten seiner geisti- gen Kontrahenten, gegen Karl Marx, der im selben Jahr wie er geboren wurde.

Vogelsang richtete seine Anklage in erster Linie gegen den anti- christlichen Geist der damaligen Zeit, der die Religion und ihre mo- ralischen Forderungen, vor allem auf sozialethischem Gebiet, ver- schmähte und verhöhnte. Der so- ziale Mißstand im Zeitalter des Hochkapitalismus war, wie Vogel- sang sagt, die direkte Folge des Rückgangs des christlichen Glau- bens in Europa. Er hielt den Kapi- talismus für eine moralische Fehl- haltung, das heißt für die zur Regel gewordene Vernachlässigung der sozialen Verantwortung, vor allem seitens der Fabriksbesitzer.

Die Arbeiter hatten unter unge- wöhnlich harten Bedingungen zu arbeiten: Bis zu sechzehn Stunden verbrachten Männer und Frauen sowie deren gemeinsame Kinder jeweils getrennt in Fabriken, ohne Sonntagsruhe zur seelischen Erho- lung und ohne das Nötigste zur Erhaltung des täglichen Lebens. Wurde jemand krank, so stürzte er samt seiner Familie in eine exi- stenzbedrohende Katastrophe; hatte die Firma finanzielle Schwie- rigkeiten oder konnte sie Arbeits- kräfte einsparen, so wurden Arbei- ter gnadenlos auf die Straße gewor- fen.

Die Kirche hatte sich seit ihrem Bestehen um das Los der Armen gekümmert; die Klostersuppe war in allen Jahrhunderten seit dem Mittelalter der letzte Rettungsan- ker für die Armen. Aber zur Zeit des Hochkapitalismus verschlech- terte sich die soziale Situation ra- pide: Die Kirche wurde immer mehr eingeschränkt und beschnitten, viele Klöster wurden aufgehoben, ohne daß die Armen, die von diesen Klöstern gelebt hatten, einen so- zialen Ersatz erhalten hätten. Die Zahl der Hilfsbedürftigen war unerhört gestiegen, aber die Kir- che, auf die die gebildeten Schich- ten nicht hörten, konnte die nöti- gen Mittel zur sozial-karitativen Abhilfe nicht mehr aufbringen.

Weiters war der Typ des Armen anders geworden: Nicht nur der Arbeitsunfähige und Arbeitsunwil- lige war brotlos, sondern in der Regel waren es nun Menschen, die mehr als alle anderen zu arbeiten hatten, länger als in den früheren Zeiten, schwerer und unter gefähr- licheren Bedingungen. Dies war der Hintergrund für das Aktivwerden der christlichen Sozialreformer, unter ihnen besonders des Öster- reichers Karl von Vogelsang. Sie forderten die soziale Reform nicht nur, um einer sozialen Revolution der Arbeiter vorzugreifen, sondern um dem Christentum in der geisti- gen und materiellen Dimension wieder Geltung zu verschaffen.

Nicht alle Kreise innerhalb der Kirche waren sensibel für die Pro- bleme der damaligen Zeit, obwohl die soziale Frage damals unter anderem auf allen Katholikenta- gen mit Priorität behandelt wurde. Viele Menschen waren nicht im- stande, sich gegen die damals dominierenden Zeitungen, die wenig Verständnis für Religion, aber noch weniger Verständnis für die soziale Frage zeigten, zu immu- nisieren.

Die katholische Presse war nach besten Kräften bemüht, einen ei- genständigen Kurs zu steuern, was aber nicht leicht war, weil sich der Publikumsgeschmack nach dem Zeitgeist richtete und eher seichte als nachdenkliche, verantwortungs- bewußte Artikel bevorzugte. Es kam darauf an, daß die christliche Linie mit Überzeugungskraft vertreten wurde, und diese Aufgabe meister- te Karl Vogelsang in den von ihm geleiteten Zeitungen und in den von ihm geschriebenen Aufsätzen.

Seine wichtigsten Aufsätze er- schienen in der Tageszeitung „Va- terland" und in der Publikation „Österreichische Monatsschrift für christliche Sozialreform". Außer- dem war er Chefredakteur des „Ka- tholik" (später „Recht") in Preß- burg/Bratislava, das damals zu Un- garn gehörte, und der „Augsburger Postzeitung"; er war Mitarbeiter im „Norddeutschen Korresponden- ten", in der Kölner „Politischen Wochenschrift", in den „Christlich- sozialen Blättern ", den „ Historisch- politischen Blättern" und anderen Zeitschriften. Einige längere Arbeiten (bis zu 200 Seiten) er- schienen auch als selbständige Veröffentlichungen.

Nicht nur durch seine politi- schen sowie sozial- und wirt- schaftsphilosophischen Arbei- ten verschaffte sich Vogelsang den nötigen Einfluß zum Zweck einer Verbesserung der Sozialgesetze, sondern auch durch persönliche Kontakte und Gespräche, zum Beispiel in Diskussionsrunden und an den damaligen Katholikenta- gen. Eine besondere Diskus- sionsrunde sozialpolitisch en- gagierter Christen ging auf seine Initiative zurück: In ei- nem Gebäude Ecke Riemergas- se und Schulerstraße im ersten Wiener Gemeindebezirk, an der Stelle, wo vorher das Gast- haus „Zur goldenen Ente" stand, gab es regelmäßige Dis- kussionen, die den inoffiziel- len Namen „Enten-Abende" erhielten.

In diesem Rahmen hat Prä- Schindler nach dem Tod von Vogelsang das Programm der spä- teren Christlichsozialen Partei ent- wickelt. Ahnliche Diskussionsrun- den entstanden auch in anderen Staaten und Ländern und in einer Koordination solcher länderspezi- fischen Initiativen wurde das Ent- stehen der großen Sozialenzyklika „Rerum novarum" vorbereitet, wobei der Geist Vogelsangs auch in Paris, Freiburg, Rom, Prag und anderswo deutlich spürbar war.

Seit dem Erscheinen der Sozial- enzyklika „Rerum novarum" ge- lang der entscheidende Durchbruch zur Sozialreform auf internationa- ler Ebene. Damals unterstützte diese offizielle, mit der Autorität des Heiligen Vaters verkündete Stellungnahme das Anliegen, wo- für sich bisher Priester und Laien, ortskirchliche Stellen und Verbän- de et cetera einsetzten. Man muß daher heute den historischen Hin- tergrund berücksichtigen, um die Bedeutung des päpstlichen Doku- ments verstehen zu können.

Vogelsangs Auseinandersetzun- gen mit dem theoretischen und praktischen Materialismus seiner Zeit sollte wieder bekannt werden, dann könnten wir heute besser verstehen, aus welchem Anliegen sich die Kraft der Katholischen Soziallehre herleitet und wie diese auch in unserer Zeit zur Wirksam- keit kommen kann. Ausgehend vom christlichen Glauben, vom Streben nach Bewahrung und Erfüllung der Werte, besonders der Würde der Person und der Achtung vor der Schöpfung, wollte er der rechten Gesinnung in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen. Das Hauptmot- to ist die Verbindung von Gesin- nungs- und Zuständereform.

Der (Wirtschafts-)Liberalismus brachte eine falsche Einstellung in die Gesellschaft; der (vulgäre, ma- terialistische) Sozialismus prote- stierte zwar dagegen, brachte aber neues Unrecht, da er ebenso von einer materialistischen Wirt- schaftsauffassung ausging und das eben beschriebene Fehlverhalten der Oberschicht nicht beseitigte, sondern zum Anrecht der gesamten Bevölkerung erklärte. Daher un- terschied sich das Lösungskonzept zwischen Vogelsang und Marx: Marx verlangte die Expropriation der Expropriateure, Vogelsang aber die Absorbierung des Proletariats, unter anderem durch die Schaf- fung von Genossenschaften.

Expropriation war das Unrecht, gegen das der Sozialismus kämpf- te, aber das Heilmittel dagegen sollte wieder Expropriation sein, die nur von der ganzen Volksmasse betrieben werden sollte, also ver- stärkt, nicht etwa in homöopathi- scher Verdünnung angewandt wer- den sollte. Gewalt und Unterdrük- kung wurden, wenn auch unbeab- sichtigt, zum Kern der marxisti- schen Praxis.

Aber auch die Vogelsangsche Methode der Gesinnungs- und Zuständereform (durch Genossen- schaften) wurde (noch) nicht Wirk- lichkeit. Wir haben zwar in der europäischen Gesellschaft kein Proletariat, aber soziale Mißstän- de, und die Gesellschaft ist heute abhängig von der Wirtschaft ande- rer Länder, in welchen ein neues Proletariat entstanden ist: In den Ländern der Dritten Welt bestehen heute ähnliche Probleme wie zur Zeit Vogelsangs in Europa.

Weiters gingen die Materialisten nach der Ausbeutung der Proleta- rier daran, die Natur auszubeuten, da sie sich scheinbar nicht durch Streiks wehrt. Will die Katholische Soziallehre eine echte Verbesserung bringen, so muß sie, im Sinne der universalen Solidarität, die christ- lichen Prinzipien auch auf diese Probleme anwenden.

So kann, wenn wir uns im ausge- henden zwanzigsten Jahrhundert mit Vogelsangs Ideen befassen, das Anliegen der Katholischen Sozial- lehre besser verständlich werden, das heißt, der innere Zusammen- hang zwischen Christentum und Sozialem und allgemein menschli- chen Werten und der Verwirkli- chung einer besseren Gesellschaft. Karl von Vogelsang ist heute, hun- dert Jahre nach seinem Tod, noch immer aktuell.

Der Autor ist Mitarbeiter am Institut für (Sozial-)Philosophie an der Universität Wien. Eben erschienen ist sein Buch: KARL VON VOGELSANG. Die geistige Grundlegung der christlichen Sozialreform. Herder Wien. 304 Seiten, 84 Abbildungen, ca. öS 340,-.

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