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Wegweiser für morgen

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Fortsetzung der FURCHE-Diskussion über den Grundtext des österreichischen Sozialhirtenbriefs: Wir bringen auf den folgenden Seiten zwei ausführliche Stellungnahmen.

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Fortsetzung der FURCHE-Diskussion über den Grundtext des österreichischen Sozialhirtenbriefs: Wir bringen auf den folgenden Seiten zwei ausführliche Stellungnahmen.

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Der Wirtschaftshirtenbrief der US-amerikanischen Bischöfe hat also doch Wellen geschlagen imd ist in Europa angekommen. Allerdings nicht beim NATO-Verbündeten und Wirtschaftsgiganten Bundesrepublik, sondern in Österreich. Während die Katholiken in Westdeutschland darüber debattieren, ob die Verhältnisse mit denen in den USA überhaupt vergleichbar seien und ob sich die Bischöfe nicht unter Hinweis auf die Arbeitsteilung der Amtsträger und Laien ein Hirtenwort ersparen könnten, haben die österreichischen Bischöfe bereits gehandelt und den Prozeß eines Sozialhirtenbriefs angestoßen.

Der Prozeß des Sozialhirtenbriefes ist dem US-amerikanischen Wirtschaftshirtenbrief ähnlich. Denn auch die österreichischen Bischöfe nehmen Abschied von einer rein deduktiv argumentierenden Soziallehre. Sie wollen, bevor sie amtlich lehren und verkünden, erst einmal hören und einsammeln, was ihre Schwestern und Brüder im Glauben bewegt, was den einfachen Leuten weh tut, woran das Volk leidet:

Also eine Soziallehre von unten in der wiederholten Kreisbewegung des Sehens, Urteilens und Handelns, deren gemeinsamer Träger die Gemeinschaft der Glaubenden und die Bischöfe sind.

Die österreichischen Bischöfe warten auch nicht, bis ein verbindliches, aber allgemein gehaltenes Wort aus Rom kommt, sondern ergreifen selbst die Initiative vor Ort.

Und sie ziehen nicht einen angstbesetzten Zaun um den Kreis der Katholiken, sondern laden neben den kirchlichen Gruppen und Gemeinden die gesellschaftlich relevanten Kräfte zu einem sozialpoUtischen Dialog ein. Das Projekt des Sozialhirtenbriefs belegt den offenen, sozial engagierten Charakter der österreichischen Kirche.

Aber das Projekt der österreichischen Bischöfe ist dem US-Wirtschaftshirtenbrief auch unähnlich. Der Grundtext ist nicht ein erster Entwurf, der nach zahlreichen Expertenanhörungen von einer Kommission ausgearbeitet und dann der Öffentlichkeit vorgestellt würde, die im nachhinein Korrekturen in einen mehr oder weniger fertigen Text eintragen könnte.

Der Grundtext hat ein methodisch anderes Profil: Er soll zum Nachdenken anregen, Bewußtsein wecken, einen sozio-ökono-mischen Reflexionsprozeß in Gang setzen, sozialpolitische Initiativen ermutigen.

Vor allem soll er die Katholiken bewegen, sich nicht auf ein Christentum der privaten Innerlichkeit, der liturgischen Feiern und der bloßen Jenseitshoffnung zurückzuziehen, sondern sich zur Welt zu öffnen und die Herausforderung der Wirtschaftsgesellschaft anzunehmen.

Der Grundtext erweist sich als ein vorzügliches Medium, die Christen in den Gemeinden, die Betroffenen an der Basis und auch die meist stummen Opfer des Wirtschaftssystems in den Entstehungsprozeß des Sozialhirtenbriefs einzubeziehen.

Vermutlich ist dieser Prozeß der Bewußtseinsbildung, der konstruktiven Kritik und der Suche nach plausiblen Lösungen überhaupt der wichtigere Abschnitt auf dem zurückzulegenden Weg. Deshalb sind die Fragen nach den eigenen Erfahrungen und Ansichten so bohrend, oft provozierend. Sie reizen zum Widerspruch, aber auch zum Nachfragen und schließlich zur schriftlichen Stellungnahme.

Neben diesen formalen Merkmalen, die den Unterschied zwischen dem österreichischen Grundtext und dem Entwurf eines Hirtenbriefs ausmachen, sehe ich das Profil des Grundtextes durch vier hervorstechende Akzente charakterisiert: • Der Grundtext geht vom beherrschenden Gewicht der Wirtschaft aus. Die moderne Gesellschaft ist zwar in verschiedene Teilsysteme ausdifferenziert, die eigenen Funktionsbedingungen unterliegen, deshalb auch eine relative Eigenständigkeit beanspruchen und sich infolgedessen die Einmischung anderer Teilsysteme verbitten; aber tatsächlich haben sich das ökonomische Denken und das ökonomische Teilsystem dermaßen verselbständigt, daß sie zum Maßstab von Bildung, Politik und Kunst zu werden drohen.

Die internationale Konkurrenz, der europäische Binnenmarkt und der technische Fortschritt werden zum Antriebsmotor gesellschaftlicher Umwälzungen erklärt, die auch gegen den Widerstand breiter Bevölkerungsgruppen durchgesetzt werden sollen.

Daß der Grundtext diese Dominanz des ökonomischen zunächst einmal als Tatsache zur Kenntnis nimmt, daß er nicht die traditionell ki-chüchen Betätigungsfelder wie Kultur, Familie oder Freizeit zur grundlegenden Perspektive macht, und daß er sich aber zugleich gegen den Totalanspruch der Wirtschaft wehrt, halte ich für bemerkenswert.

• Der Gnmdtext macht die menschliche Arbeit zum Dreh-und Angelpunkt einer wirtschaftsethischen Reflexion. Das ist nicht selbstverständlich. Denn diejenigen, die sich sonst darum bemühen, Wirtschaft und Ethik einander näherzubringen, appellieren an den Führungsstil der Konzemmanager, oder vergleichen das System der freien Marktwirtschaft mit dem real existierenden Sozialismus, oder laden den PoUtikem die Verant-

„Der Grundtext weist über die Zeit der Industriegesellschaft weit hinaus“

wortung für ein menschenwürdiges und sozialgerechtes Wirtschaften auf.

Unter dreifacher Rücksicht finde ich diesen Akzent des Grundtextes zukunftsweisend: erstens relativiert er die traditionelle Fixierung auf das Arbeitsergebnis, nämlich Geldeinkommen und Konsum; Arbeit erhält einen Eigenwert und ist nicht nur ein Mittel zur Steigerung des Lebensstandards.

Zweitens erklärt er ein Handeln, das jede Person angeht, ob sie Kinder erzieht, ein Unternehmen leitet, am Schreibtisch sitzt oder an der Drehbank steht, zum kritischen Maßstab wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Und drittens weist er über die Zeit der Industriegesellschaft hinaus, indem er Arbeit nicht einfachhin mit Erwerbsarbeit gleichsetzt.

Daß der Grundtext dennoch die Erwerbsarbeit so stark gewichtet, verrät sein nüchternes Urteil. Denn gegenwärtig und auf absehbare Zeit hängt der überwiegende Teil unserer Lebensqualität und insbesondere unserer gesellschaftlichen Rangstellung immer noch an der Erwerbsarbeit.

Arbeitslose woUen erst einmal an der gesellschaftlich organisierten Arbeit teilhaben, bevor sie ihre Arbeitslosigkeit als schöpferische Chance begreifen beziehungsweise darangehen, in alternativen Arbeitsformen sich selbst zu verwirklichen. Wer über ein anderes Arbeitsverständnis nachdenkt, muß erst die Organisation, insbesondere die Verteilung der Erwerbsarbeit reformieren.

• Der Grundtext begreift die Lage der Frauen und die Situation der Familie von der Erwerbsarbeit her. Diese Sichtweise ist für eine Analyse im katholischen Mi-Heu ganz ungewöhnlich und hat bereits Mißfallen ausgelöst. Dennoch wird sie den meisten Familien in der Industriegesellschaft gerecht. Denn die autonome Familie, die eine Art emotionale und egalitäre Gegenstruktur zum rational imd hierarchisch organisierten Industriebetrieb darstellen könnte, hat sich als Phantom erwiesen.

Wie sehr die KleinfamiHe eine Funktion der Erwerbsgesellschaft ist, bekommen die Frauen unmittelbar und am meisten zu spüren. Daß der Grundtext darum weiß, wenn er zum Beispiel die für die Familie verheerenden Folgen einer um sich greifenden Arbeitszeitflexibilisierung anspricht, macht ihn mir außerordentlich sympathisch.

• Der Grundtext ist ein Alarmruf gegen die Tendenz der Zweidrit-telgesellschaft Wenn Wirtschaftstheoretiker, Unteraehmensma-nager und manche Politiker ihre gesellschaftlichen Erfahrungen austauschen, stinunen diese in der Regel nicht mehr mit dem überein, was Betriebsräte, arbeitslose Jugendliche, kleine Bauern und Empfänger von Sozialhilfe in ihrem Alltag erleben-

Die Pplarisierung und Spaltung der Gesellschaft im Hinblick auf Erfahrungen, Einkommen und Lebensqualität ist kein Gespenst von Miesmachern mehr, sie hat bereits auf Europa übergegriffen; weltweit ist sie längst traurige Realität.

Indem der Grundtext von den Menschen her argumentiert, die benachteiligt sind und an den Rand gedrängt werden, fügt er sich ein in die Reihe jener kirchlichen Dokumente aus Rom, Medel-lin, Puebla und New York, die eine vorrangige Option der Kirche für die Armen ausgesprochen haben.

Zum Abschluß möchte ich einige Mängel des Grundtextes nennen. Die Gefahr der Umweltzerstörung sollte nicht bloß bei der Krise und Reform der Landwirtschaft angesprochen werden; die Wirtschaft braucht umfassend einen Öko-sozialen Umbau. Das Wechselverhältnis von Gesellschaft und neuer Technik, das zu Beginn angedeutet wird, scheint mir nicht hinreichend ausformuliert zu sein. Außerdem meine ich, daß der Grundtext die monetären Aspekte der Wirtschaft, insbesondere die Rolle der internationalen Finanzmärkte bei der sogenannten Verschuldungskrise der Entwicklungsländer, unterschätzt.

Und schließlich habe ich den Eindruck, daß sich die Fragen vorwiegend auf das unmittelbare Erlebnis- und Erfahrungsfeld richten; der systembedingte Hintergrund, der strukturelle Zusammenhang sowie die Macht der Interessenverbände, Gewerkschaften und Parteien treten ebenso zurück wie die Mobilisierung von Gegenmacht durch gemeinsame Initiativen, soziale Bewegungen und gewaltfreien Widerstand.

Die österreichischen Bischöfe haben das US-Modell nicht kopiert, sondern einen originellen, kreativen Weg eingeschlagen, um ein breites kirchhches Fundament für eine Stellungnahme zu legen. Ich wünsche, daß der Grundtext einen intensiven Dialog voller Zustimmung, kritischer Einwände und Korrekturen auslöst imd daß dieser dialogische Prozeß wie vorgesehen in einen Sozialhirtenbrief der Bischöfe einmündet.

Der Autor ist Professor für Sozialethik in Frankfurt.

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