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„Weil ich auf das gute Ende setze64

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Suche ich die Einzigartigkeit Jesu historisch zu fassen, nicht nach der Weise der wissenschaftlichen Geschichtsschreiber, sondern als Deutung eines Zeitgenossen, der sich selber als historisch versteht, so ist mir eine Hilfsvorstellung aus der Biologie nützlich gewesen:

Jesus ist eine „Großmutation", neu und irreversibel und auf die Zukunft gerichtet, so wie alle gelingenden, nämlich das Leben nicht mindernden, sondern steigernden biologischen Großmutationen neu, irreversibel und auf ihre Zukunft hin gerichtet sind.

Das ist selbstverständlich nur ein Bild: wie alle Vorstellungen, die von einer Sphäre in eine andere getragen werden, stößt man rasch an seine Grenzen. Ich sehe drei Bereiche, für die sich dieses Bild verwenden läßt.

Jesus verwandelte erstens die Religion - seine Religion, die seines Volkes. „Eure Väter haben gesagt, ich aber sage euch ..."

Er steht da in der Tradition der Propheten: nicht Brandopfer, sondern Barmherzigkeit. „Der Sabbat ist um des Menschen willen da."

Es geht vor allem um Sensibilisierungen: um das Herz des Gesetzes und um das Herz des Rituals, um ein Gottesverhältnis „im Geist und in der Wahrheit". Es geht um das Verständnis der Führung des Gottesvolkes durch Jahwe auf das Kommen des Reiches Gottes hin.

Soweit Jesus auch in dieser Verkündigung, die ja über den Bereich der Religion hinausgeht, religiöse Weisungen und Klärungen gibt, bleibt er bei denen, zu denen er sich zuerst gesendet weiß: bei den Kindern Israels.

Die zweite Großmutation möchte ich einen Sprung der Humanisierung nennen. Sie äußert sich sehr deutlich in der Umbewertung der Frau und des Kindes, aber auch sehr viel von dem, was in der zentralen Verkündigung und Verheißung des Reiches Gottes von Worten Jesu bis zu den Briefen der Apostel „Erneuerung" heißt, meint Veränderungen im täglichen Umgang des Menschen mit den Menschen, die „Sittlichkeit" der Nähe.

Hierhin gehört natürlich die Sprengung der Grenzen: der Umgang mit Fremden, den je anderen, auch den Verfemten und Außenseitern. Typisch ist auch hier Sensibilisierung: Ehebruch ist schon der begehrliche Blick. Zentral für diese Dimension ist das Gleichnis vom Samariter...

So steht die geschichtliche Dimension jenes „Unmöglichen", so steht „unser • Unmögliches" noch vor uns. Unter diesem geschichtlichen Aspekt nenne ich die dritte Großmutation „Hominisierung". Sie hat in Jesus von Nazareth begonnen, aber ihre große Zeit steht ihr erst in den Krisen des dritten Jahrtausends bevor, im Bösen oder im Guten.

Könnte ich nicht glauben, daß die lebensentscheidenden Integrationsaufgaben, die sich aus den Emanzipationen der Völker in der tödlichsten aller Krisen ergeben, etwas mit den einzigartigen Herausforderungen jenes einzigartigen Geist-Gesandten zu tun haben, könnte ich also nicht annehmen, daß die entscheidende geschichtliche Chance des Christentums erst gerade begonnen hat, so würde mein Christentum zwischen dessen fragwürdiger Vergangenheit und unserer fragwürdigen Gegenwart und Zukunft möglicherweise zerrieben werden oder zerbrechen.

Nur weil dieses geschichtliche Band nicht zerreißt, weil es mir die Identität des Christen und des Zeitgenossen läßt, der in beiden Dimensionen der Zukunft entgegenlebt, kann sich auch die „private" Christlichkeit als „Frömmigkeit" lebendig erhalten.

Sie ist aus der Tradition zweier Jahrtausende, der Gemeinschaft von sechzig Generationen, dem Zusammenleben mit Mitglaubenden - „Mitmysten" nannte sie Elisabeth Langgässer - genährt und in Erneuerung begriffen, gespeist auch aus dem „Sakrament", dem wiederholbaren Zeichen als der Gewähr der verheißenden Gegenwart „des Herrn" und des ständigen neuen Aufbruchs in seinem Geist.

Karl Marx und der Evangelist Johannes waren sich darin einig, daß das Ende der Geschichte schrecklich sein kann oder sein wird („Barbarei", „Gericht"), aber „gesetzt" haben sie beide auf die gute Alternative: daß Lamm und Löwe friedlich nebeneinander liegen (Marx sah auch den Bourgeois befreit: vom Fluch aktiver Ausbeutung), und Johannes sagt uns, daß Gott Jede Träne abwaschen wird von euren Wangen".

Ich bin Christ, weil ich auf das gute Ende setze, in Hoffnung wider die Wahrscheinlichkeit.

Die trinitarische Artikulation macht alles leichter; ein monolithischer Gott, wie ihn das Judentum, der Islam und

die christlichen Unitarier bekennen, wäre mir gefährlich fern.

Als Reinhold Schneider, der allerdings ein Christ höheren Karats gewesen ist, in seinem Winter in Wien (wie im Buch gleichen Namens zu lesen ist) sich weder an den allgütigen Vater noch an die Kraft der Hoffnung zu halten vermochte, fand er als Gegenüber vertrauender Identifizierungen nur den leidenden und sterbenden Jesus Christus: durch ihn blieb er, was er als junger Mann geworden war, ein Christ.

Auch mir ist in der Trinität der Vater der Fernste, weil ich ihn mir, der doch der Garant des Urvertrauens und also der Anfang ist, als den Schöpfer dieser Welt so schwer vorstellen kann; der Sohn ist der Nächste, vorstellbar, der Bruder.

Doch setze ich mit wohl etwas angespannter Leidenschaft vor allem auf den allernächsten Unvorstellbaren, auf den „Gott in uns", die Kraft des Geistes. Von dem allerdings bekenne ich -denn „ich glaube an Einen Gott" - daß

er „vom Vater und vom Sohne ausgeht".

Nicht nach der Kirche, sondern nach der Christlichkeit ist gefragt worden. Doch fordert die Botschaft die Gemeinschaft der Glaubenden und deren Kontinuität durch die Geschichte hindurch. Deshalb bin ich ein kirchlicher Christ geblieben.

Auszugsweise aus: „Warum ich Christ bin", 38& S., öS 230.-, Copyright by Kindler-Verlag. Der Autor ist Katholik und freier Schriftsteller in der Bundesrepublik Deutschland.

Ein Weg zu Christus

Von Mykola Rudenko

Der ukrainische Schriftsteller und Mitbegründer der Kiewer Helsinki-Gruppe Mykola Rudenko ist ein Beispiel dafür, daß es in der Sowjetunion Menschen gibt, die bereit sind, für Menschlichkeit und Christus ihre Laufbahn und Wohlergehen aufzugeben, weil sie nicht mehr heucheln und lügen können.

Mykola Rudenko wurde 1920 als Sohn eines Bergarbeiters geboren. Sein Studium mußte er wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges unterbrechen. Als Politoffizier nahm er an der Verteidigung Leningrads teil und wurde schwer verwundet. Nach seiner Genesung kämpfte er bis Mai 1945 weiterhin an der Front.

Nach dem Krieg arbeitete er als Schriftleiter verschiedener sowjetukrainischer Zeitschriften und Verlage, publizierte selber Lyrik und Prosa im offiziell zugelassenen Geist. Aber schon sein Roman „Der letzte Säbel" (1959) läßt erkennen, daß der Autor mehr sagen wollte, als die Zensur es zuließ, er rechnet darin mit der Willkür der Geheimpolizei ab, der Millionen von Bauern 1933 zum Opfer gefallen waren.

Die Abkehr von der offiziellen Parteilinie, deren Mitglied er war, erfolgt im Verlauf der 60er und 70er Jahre, als er die Prozesse gegen die ukrainischen Intellektuellen miterlebt, die sich gegen die Diskriminierung ihrer Sprache und Kultur durch den neuen zentralisti-schen Russifizierungskurs wandten.

Er wird 1975 Mitglied der Moskauer Amnesty International, worauf man ihn kurz verhaftete und aus dem Schriftstellerverband verbannte. Da er keinerlei Reue zeigte, wies man ihn iifi Februar 1976 für zwei Monate in eine Kiewer psychiatrische Anstalt ein, wo er auf seinen Geisteszustand geprüft wurde. Ergebnis: „Dissoziation emotionaler Art."

Im November 1976 gründet er mit neun anderen ukrainischen Bürgerrechtlern die Kiewer Helsinki-Gruppe zur Förderung der Verwirklichung der Helsinki-Beschlüsse in der Ukraine. Im Februar 1977 wird er zusammen mit O. Tychyj verhaftet und im Juni 1977 zu sieben Jahren Lager strengen Regimes und fünf Jahren Verbannung verurteilt.

Rudenko ist schwer kriegsversehrt und mußte wiederholt ins Lagerkrankenhaus Baraschewo eingeliefert werden. Frau Raisa Rudenko, die sich an Amnesty International und die westliche Öffentlichkeit um Hilfe gewandt hatte, wurde für ihre mutigen Appelle Repressionen und Diffamierungen ausgesetzt.

Mykola Rudenko hat in einem seiner letzten lyrischen Werke, dem Poem „Das Kreuz", seine Wandlung von einem gottlosen Politkommissar zum gläubigen Menschen zum Ausdruck gebracht. Dieser Prozeß vollzieht sich bei ihm auf dem Hintergrund der Leiden seines tiefgläubigen ukrainischen Volkes. HANS BA UMGARTNER

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