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Weiser ohne Stein

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Historiker späterer Tage werden es leichter haben als der kontemporäre Beobachter, dieses verflixte britische Jahr 1975 in die richtige Perspektive zu rücken. Es ist ebenso naheliegend, von einem Jahr der großen historischen Entwicklungen zu sprechen, wie von einem Jahr der sich verschlechternden Wirtschaftskrise, des Terrors, der inneren und äußeren Machtlosigkeit. Beides trifft ztt, so überhöht es auch klingen mag, aber: „Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein...“ Von dieser Goetheschen Warte aus betrachtet, sind manche Widersprüche Vielleicht leichter verständlich.

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Historiker späterer Tage werden es leichter haben als der kontemporäre Beobachter, dieses verflixte britische Jahr 1975 in die richtige Perspektive zu rücken. Es ist ebenso naheliegend, von einem Jahr der großen historischen Entwicklungen zu sprechen, wie von einem Jahr der sich verschlechternden Wirtschaftskrise, des Terrors, der inneren und äußeren Machtlosigkeit. Beides trifft ztt, so überhöht es auch klingen mag, aber: „Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein...“ Von dieser Goetheschen Warte aus betrachtet, sind manche Widersprüche Vielleicht leichter verständlich.

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Das historisch zweifellos bedeutendste Ereignis dieses Jahres war das überzeugende Ja zur europäischen Gretchenfrage, mit der sich der zaudernde Freier Großbritannien weit über zehn Jahre lang herumge schlagen hatte. Im Juni ergab die Volksbefragung — die erste, die jemals in Großbritannien veranstaltet worden war — eine eindeutige Mehrheit von 67,3 Prozent für den Weiterverbleib des Landes in der EG — eine Mehrheit, Wie sie noch keine englische Partei je bei allgemeinen Wahlen erzielen konnte. Uber alle engstirnigen, chauvinistischen und parteipolitischen Pseudoargumente hinweg hatte der gesunde Instinkt des britischen Volkes die richtige Entscheidung getroffen, die trügerische Freiheit einer insularen, vergilbten „Splendid Isolation“ für eine bessere Zukunft als Mitglied einer starken, aufstrebenden Gemeinschaft einzutauschen.

Diese Entscheidung war wohl nicht zuletzt auch durch die immer angespannter werdende Wirtschaftslage beeinflußt worden, die auch durch den sogenannten „Soziälkontrakt“ zwischen der Labourregierung und den Gewerkschaften nicht wirklich gebessert werden konnte. Gleich nach den parlamentarischen Weihnachtsferien hatte Schatzkanzlef Healey im Jänner im Unterhaus offen davor gewarnt, daß bei weiteren unbeschränkten Lohnforderungen eine galoppierende Inflation und eine Massenarbeitslosigkeit nicht aufzuhalten seien. Der TUC, der Dachverband der britischen Gewerkschaften, versprach zwar erneut, seine Mitglieder zur Mäßigung anzuhalten; da aber dieser Verband den einzelnen Gewerkschaften nur raten, aber nicht befehlen kann, und weil sich die Regierung immer noch standhaft weigerte, einen staatlichen Lohnstopp anzuordnen, kam es weiterhin zu streikunterstützten, überhöhten Lohnforderungen vor allem seitens einiger von Linksextremisten beherrschter Gewerkschaften, für die der Sozialkontrakt immer nur ein heimtückischer Versuch des Kapitalismus war, sich auf Kosten der Arbeiterschaft am Leben zu erhalten.

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Die Inflation in Großbritannien, im Jänner noch auf rund 20 Prozent, Stieg langsam, aber unaufhaltsam weiter an, und selten kann eine wirtschaftliehe Voraussage so falsch gewesen sein wie ein im März erschienener Bericht der New Yorker First National City Bank, der eine Nivellierung der britischen Inflationsrate um die Jahresmitte und ein Absinken auf etwa 13 Prozent bis Ende 1975 voraussagte. (Die tatsächliche Entwertung des Pfund Sterling seit dem „Floaten“ der Währung im Jahre 1972 beträgt zur Zeit rund 30 Prozent.) Schatzkanzler Healeys hartes Sparbudget im April wurde daher selbst vom linken Flügel seiner Partei nicht allzu scharf angegriffen — vielleicht auch deshalb, weil es nach Ansicht der Konservativen immer noch nicht weit genug ging, vor allem, was die weiterhin sehr hohen Regierungsausgaben anging. Auch die im Spätsommer dann doch vorgenommene staatliche Lohnbeschränkung (Erhöhungen um nicht mehr als sechs Pfund pro Monat) wurde von den Gewerkschaften mit erstaunlicher Disziplin akzeptiert.

Die Konservative Partei, durch drei vergangene Wahlniederlagen entmutigt und demoralisiert, war Inzwischen wieder zu einer etwas energischeren, profilierteren Oppositionspartei geworden, nicht zuletzt dank ihrer spektakulärer! Entscheidung vom 11. Februar, die Parteiführung erstmalig in ihrer Geschichte einer Frau anzuvertrauen. Margaret Thatcher, die neue „First Lady“ der Tories, hat bei scharfen Debatten im Unterhaus ebenso wie bei ihren verschiedenen Auslandsreisen politisch und persönlich voll „ihren Mann“ gestellt und hat stürmisch und auch mit einigem Erfolg die arrogante These der Labourpartei angegriffen, die „natürliche Regierungspartei in Großbritannien“ zu Sein.

Einer der externen Häuptfaktoren für die britische Wirtschaftskrise war zweifellos die enorme Erhöhung der Erdölpreise, durch die die britischen Importkosten und damit die Handelsbilanz auf fast untragbare Weise belastet wurden. Das Jahr 1975, genauer gesagt: der 3. November, brachte nun aiuf diesem Gebiet eine weitere historische Entwicklung. Im Rahmen einer mit Recht großangelegten Zeremonie wurde an diesem Tag durch Königin Elizabeth bei Aberdeen in Schottland eine Rohrleitung eröffnet, durch die das erste Erdöl aus der Nordsee in kommerziell verwertbaren Mengen in britische Speicher gepumpt wird — ein dünner, schwarzgoldener Faden, der in den nächsten Jahren zum Strom werden soll, bis Großbritannien spätestens Anfang der achtziger Jähre nicht nur Erdöl-Selbstversorger, sondern sogar Exporteur dieser so kostspieligen Flüssigkeit sein wird.

Bleiben Nordirland und die Terroristen der IRA. Hier hat das Jahr 1975 nichts gebracht, was zur geringsten Hoffnung Anlaß gibt. Der sogenannte Waffenstillstand der IRA, am 10. Februar von deren Führung erneut geschlossen, ist nach einer an fänglichen trügerischen Stille immer mehr zur Farce geworden, der wahllose Mord herrscht wieder — nicht nur in der nordirischen Provinz selbst, sondern auch in England und in der englischen Hauptstadt. Bombenanschläge, Geiseldrama; während der Terror Gegenterror gebiert, während sich „katholischen“ „protestantische“ Mörder entgegenstellen und der Konflikt Immer tiefer, immer unlösbarer wird, pumpt Großbritannien weiterhin Millionen Pfund Sterling nach Nordirland, Millionen, die anderswo dringend erforderlich wären. Beim Thema Nordirland versagt selbst der berühmte englische „Common sense“ und die Kunst britischer Diplomatie.

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