6949162-1984_05_05.jpg
Digital In Arbeit

Weitmaschiges Sozialnetz

Werbung
Werbung
Werbung

Die „Neue Armut" ist ein Phänomen, mit dem Sozialpolitiker noch wenig anfangen können. Zur Schichte der „neuen Armen" gehören die einsamen Pensionisten und Ausgleichsrentner ebenso wie die Alleinerziehenden, die Dauerarbeitslosen, die kinderreichen Familien.

Arm sein bedeutet heute auch, durch das weitmaschige Netz des Sozialversicherungssystems durchzurutschen. Die generellen Normen sind so, daß damit individuelle Fälle nicht gelöst werden können.

Armut im Wohlfahrtsstaat ist ein qualitatives Problem gewor-

den. Die „neuen Armen" haben sich an die Ränder der Gesellschaft zurückgezogen. Die Armut existiert verschämt und versteckt.

Allein in der Bundeshauptstadt Wien leben nach jüngsten Berechnungen rund 200.000 Menschen, die unter den Begriff der „Neuen Armut" fallen. Das sind 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das heißt: Jeder achte Wiener ist „arm*.

Eines der „Armenhäuser" Österreichs ist die niederösterreichische Region rund um Poys-dorf. Dort erzielten die in der Arbeitsstättenzählung 1981 erfaßten 1.368 Arbeitnehmer ein Jahreseinkommen von brutto 68.900 Schilling. Das sind 4.921 Schilling pro

Monat, ohne Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Ähnliche Niedriglohngebiete gibt es im Burgenland und in der Steiermark, etwa in den Bezirken Güssing und Rad-kersburg.

Die soziale Frage hat sich verändert. Armut wird zu oft an der falschen Stelle bekämpft. Es gibt Begünstigte im Sozialsystem, die von den Benefizien des Wohlfahrtsstaates recht gut leben.

Zu den Verwirrungen und Ver-irrungen des Sozialstaates gehört die Witwerpension. Diese Neuregelung führt etwa dann zu sozialpolitischen Uberversorgungen, wenn zwei nicht wiederverheiratete Personen in einem gemeinsamen Haushalt leben. Witwer und Witwe beziehen dann zusammen vier Pensionen, die jeweils eigene und die Hinterbliebenenpension.

Und gleichzeitig versagt das Sozialsystem bei Todesfällen in jungen Familien. Dort ist für den überlebenden einkommensschwachen Ehepartner keine auch nur annähernd ausreichende Versorgung garantiert.

Die individuellen Probleme werden von Gesetzgeber und von der Sozialbürokratie „vergessen". Gleichzeitig ist der Sozialstaat nicht in der Lage, die heimtückischen Löcher im Sozialnetz

zu beseitigen, wie die Trennung von Kranksein und Pflegefall.

Solange ein Leiden durch die Medizin geheilt werden kann, besteht ein Anspruch auf Leistungen aus der Krankenversicherung. Wird das Leiden chronisch, so rutscht der Betroffene in der für ihn und seine Angehörigen besonders schwierigen Lebenssitua-

tion durch die Maschen der Sozialversicherung. Er fällt dann, genau in dem Moment, wo er der Solidarität aller am meisten bedarf, aus dem Schutz der Versicherung heraus.

Natürlich kann auch persönliches Fehlverhalten in die Armut führen: In den letzten Jahren haben sich viele Familien finanziell

übernommen. Die Verschuldung der österreichischen Familien ist hoch. Der Ausfall des Verdienstes, etwa bei Verlust des Arbeitsplatzes eines Ehepartners, bringt die Familien und die Familienerhalter an den Rand des Ruins.

In den offiziellen Sozialstatistiken ist die „Neue Armut" nicht erfaßt. Das mag an der Sprachlosigkeit dieser Gruppe liegen, sie hat keine Meinungsmacher hinter sich. Das mag aber auch daran liegen, daß die offiziellen Stellen eine Art Selbstverschuldungstheorie aufgebaut haben.

Die statistischen Erhebungen scheitern aber auch daran, weil die Festlegung von Mindestsätzen, Richtsätzen und gerichtlichen Existenzminima auf die individuellen Lagen nicht eingeht.

Der Sozialforscher Ernst Gehmacher weiß um die Schwierigkeiten, die „Neue Armut" zu erfassen, hat aber den Betroffenen-kreis zu umschreiben versucht:

• Etwa ein Drittel aller Armutsfälle sind Unterstützungsberechtigte, die ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen;

• rund die Hälfte der Armut läßt sich mit den derzeitigen Hilfen nicht beheben — und wird deshalb abgewiesen oder als „aussichtslos" eingestuft.

• Der Rest ist den zuständigen Stellen nur unzureichend oder überhaupt nicht bekannt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung