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Welchen Preis hat ein Remis?

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Am kammeiniden Sonntag wählt die Bevödkerung West-Berüns ihr Stadtparlament. Dde Wahl ist jedoch mehr als ein Lokaleredgnis. Sie entscheidet bis zu einem gewissen Ausmaß über die OstpoMtik der Bonner Regierungskoalition. Hier, an der verwundbansten Stelle der westlichen Welt in Europa, hemrsdit gleidisam Frontstimmoing. Bin Erfolg der SPD würde bedeuten, daß die am stärksten von der West-Ost-Auseinandersetzung betroffene Bevölkemimg mit großer Mehnheit die Ostpolitik Brandts gutheißt und mit Jhr Hoffnungen auf politisdie Entspannung und ein vernünftiges Nebeneinanderleben von West-Berlin und DDR ohne ständige Bedrohung von Seiten des Ostens verbindet. Eine größere Stimmeneinbuße der SPD hingegen würde die Ostpolitik der Bonmer Regierung moralisch schwer-stens treffen. Die Front würde gewissermaßen gegen die Generalität rebellieren.

Nun wird dem Berliner die Wahl nidit lelchtgemadrt. Er hat nämlidi im Grunde kaum eine Alternative, ist er dödi, aut Weli3iem Gebiet immer die Entspanmmig eintreten soll, vom guten Willen der Sowjets, aber audi von dem der DDR afb-hängä®. Das Sdilimmste dabei ist, daß er selbst einer Entspannung mit Mißtrauen entgegensehen muß, weil er nie gemau weiß, ob ein Umarmen nidit zMgledch auch ein Erdrücken ist. Schon die vergamgene Woche zeigte dieses Spiel mat Zudcerbrot und Peitsche, das von Seiten der DDR mit Duldung oder vielleddit auch Zustimmung der Sowjets — wer kann es genau w’issen — betrieben wird. Einerseits kam am Dienstag ein Verhandlunigsanigebot des ostdeutschen Ministerpräsidenten Stoph an den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, Schütz, dias von optimistischen Kommentatoren in der Bundesrepublik als „zähneknirschendes" Einschwenken der DDR gewertet wuinde. Das Angebot ließ die zu verhandelnden Fragen offen, doch kommentierte das ostdeutsche Parteiorgan „Neues Deutschland" die Aktion Stophs mirt dem Hinweis, daß der DDR an einer „stabilen und dauerhaften Regelung" gelegen sei. Was aber ist eine srtabile und dauerhafte Regelung in den Augen der ostdeutschen Madi’thaber? Auch hiefür gab es eine Antwort in der Vorwoche. Es kam ziu empfindlichen Störungen aurf den Zufahrtswegen nadi West-Berlin auJ Grund von Maßnahmen der osrtdeutschen Behörden, wobei die Sitzung der CDU-Fraktionsdiefs in West-Berlin zum Anlaß genommen wurde. Es war das viertemal innerhalb von vier Monaten, daß derartige Störungen seitens der DDR unternommen wurden, wie die WestalUierten in ihrer Demarche bei den sowjetrusisdschen Behörden in Ost-Berlin „mit tiefer Bföongnis" feststellten. Jedesmal aber ging es darum, daß die DDR gegen bundesdeutsche Präsenz in Wesit-Beriin zu Felde zog. Eine „stobile und dauerhafte Regelung" bedeutet deshalb nadi Auffassung der DDR, daß die Präsenz bundesdeutscher Parteien, Volksvertretungen, Regierungen und Behörden in West-Berlin aufhören muß. Wie ent-sdieidend diese Frage für die DDR ist, kann schon daraus ersehen werden, daß sie ihre Sdiikanen im Verkehr nach West-Berlin eine Wodie vor den Wahlen setzte, obwohl sie weiß, daß sie damit den beiden Regierungsparteien schaden könnte. Der Regiier«ode Bürgermeister Schütz tat beides. Er protestierte gegen das Voi^ehem dar DDR-Behörden und bezencbnete die Maßnahmen als eine Verletzung des Geistes des Moskauer Vertrages. Er betonte darüber hinaus, daß sich der Senat von West-Berlin nicht erjjres-sen lasse und daß die Bindungen der Stadt an die Bundesrepublik unver-ziditbar seien. Anderseits nahm er das Veilhandlungsangelbot Stophs an, wenn audi unter dem Vorbehalt, daß der Senat nur in der Lage sei, über innerstädtische Fragen zu verhandeln. Den Viermächtegesprächen dürfe nicht vorgegriffen werden. Er lehnte außerdem den von der DDR vomgesdilagenen Termin ab, doch fanden dann am Wochenende Verhandlungen statt, die am 12. März fortgesetzt werden sollen. Gegenstand dieser Verhandlungen sind Passiersdieine für Besuche von West-Berlinern in Ost-Berlin und in der DDR während der Osterzeit. Seit fünf Jahren blieb den West-Berlinern beides versperrt. Es wäre möglich, daß am 12. März ein Passierscheinabkommen zustande käme. Der Zeitpunkt wäre gerade recht, soll das Abkommen noch die Wahlen beeinflussen.

Allerdimigs — die Berliner sind hellhörig. Um ein Passierscheinabkommen verkaufen sie nicht ihre Freiheit. Für sie entscheidet allein, ob sie in der Ostpolitik Brandts die Zukunft gesidiert sehen oder nicht. Ob sie die radikalen Linkstendenzen, die in den Vorkommnissen auf der Freien Universitäit und in den ver-sdiiedensten Aktionen der Jusos siditbar werden, als Richtungspfeiler in das politisdie Morgen anerkennen. Allerdings wissen sie nidit genau, was kommen wird. Die jenseits der Mauer sitzen am längeren Hebel, und die ©nthusiastische Ära, in deren Abenddämmerung Präsident Kennedy immertrin noch das Bekenntnis sprach „Idi bin ein Berliner", ist zu Ende. Man pokert nidit mehr mit hohem Einsatz um Berlin, sondern man sudit nach einem Remis. Der Westen braudit das sowjetisdie Plazet für seine Berlin-Rechte, und die DDR darf nach außen hin wenigstens nicht das Gesicht verlieren. Was für Opfer das Remis die Berliner kostet, ist noch nicht genau alhcusehen.

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