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Welcher Fortschritt?

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„Der Fortschritt hat ein Bündnis mit der Barbarei geschlossen.” (Sigmund Freud 1938)

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„Der Fortschritt hat ein Bündnis mit der Barbarei geschlossen.” (Sigmund Freud 1938)

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Ein Wort forschen Klanges, aus zwei kurzen, harten Wörtern zusammengesetzt: Fortschritt. Bei akkurater Aussprache hört man förmlich die Absätze auf den Boden knallen. Dazu stellt sich die optische Vorstellung von einer Geraden ein, eindimensional.

In der Zeit meiner Kindheit wurden von den Kindern Fortschritte gefordert. Wer keine Fortschritte machte, in der Schule, beim Klavierunterricht, im Benehmen et cetera, hatte mit Konsequenzen zu rechnen. Fortschritt war Pflicht. Alles schritt fort. Damit war gemeint, daß vieles sich veränderte. Fortschritt war ein ausschließlich positiver Begriff. Der technische und wirtschaftliche Fortschritt faszinierten so sehr, daß sie als Fortschritt schlechthin galten. Wohlstand entstand. Mit vollem Bauch macht man sich keine neuen Gedanken.

Dennoch traten, von Umweltkatastrophen ausgelöst, schließlich Zweifel an der Qualität des Fortschritts auf. Man erkannte die Fehler des alten Fortschritts, der neue hieß Rückbau. Man sah auch, was im Schatten des plenus venter sonst noch Fortschritte gemacht hatte: Süchte, Neurosen, Aggressionen und allerlei Wohlstands-Unglück.

Man bedachte und bedenkt nicht, was keine Fortschritte gemacht hat, weder kurz- noch mittel- oder langfristig: das kreative und ethische Potential des Menschen. Weil es uns besser ging, meinten wir auch besser geworden zu sein und natürlich auch klüger und daher vernünftiger. Wir erlagen der Illusion wahren, menschlichen Fortschritts.

Doch unsere barbarische Erbschaft werden wir nicht los. Man sollte meinen, wir hätten sie schon längst in Bluträuschen und Grausamkeitsorgien sonder Zahl und in Exzessen aus Wahn und Angst verpraßt. Jedoch das Kapital trägt Zinsen und erneuert sich wie die „böse Tat, die fortzeugend Böses muß gebären”. Häufig geht die Barbarei ein Bündnis mit dem Fortschritt ein. Das griechische Sprichwort vom Krieg, der der Vater aller Dinge sei, gibt das ganz offen zu. Wer schon drei bis vier Jahrzehnte lang auf der Welt ist, hat in einer solchen Bündniszeit gelebt. Damit scheint es nun vorbei zu sein. Die tagtäglichen Medieninformationen machen uns zu Mitwissern, Zeugen und Voyeuren von Barbarei schlimmsten Ausmaßes. Von Fortschritt nichts zu sehen. (Astronautenkunststücke im All erreichen unser Herz nicht mehr.)

Was ist schnellebig?

Auch was an der Zeit als schnellebig (eine der Eigenschaften des Fortschritts) galt, stellt sich als bloß mit kurzlebigen Überflüssigkeiten angefüllt heraus. Konsum- und Wegwerfdinge sowie Zerstreutheit und schlechtes Gedächtnis ergaben den Anschein von Schnellebigkeit.. Aber Konflikte, Kriege, Friedensverhandlungen dauern an, breiten sich zäh und schwer im Zeitraum aus, und das tägliche Geschehen bringt sie nicht von der Stelle.

Die großen Weltprobleme haben vom modernen Kommunikationstempo ebenso wenig profitiert wie die individuellen Seelenprobleme. Die alten Vater-Mutter-Kind-Dramen, deren Bewältigung schon vor zweieinhalb Jahrtausenden in großartigen kathartischen Tragödien versucht wurde, lasten als archaisches Erbe immer noch jähre- bis jahrzehntelang auf unserem Innenleben. Schnellebig ist nichts davon geworden.

Alles Verdrängte bricht eines Tages hervor. Über den Brüchlinien der Geschichte von Völkern wie von Einzelmenschen wächst zwar Gras, aber irgendwann reißen gerade dort neue Abgründe auf. Im Geschichtsatlas findet man diese Schicksalslinien der Welt.

Es gibt Zeiten, in denen man vor lauter Fortschritt die Barbarei nicht wahrnimmt. So ist es beim Fortschritt unseres Wohlstands auf Kosten der Dritten Welt, oder beim technischen Fortschritt, der zugleich ein Fortschritt der Waffentechnik ist, oder bei vielen zivilisatorischen Fortschritten zum Schaden der Natur. Vom gegenwärtigen Zustand ist eher anzunehmen, „daß der Rückfall in nahezu vorgeschichtliche Barbarei auch ohne Anlehnung an irgendeine fortschrittliche Idee vor sich gehen kann.” (Sigmund Freud, Vorbemerkung I zu „Moses, sein Volk und die monotheistische Religion”. Vor dem März 1938).

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