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Weltmodell Buchmesse

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Wieder einmal ist die Buchmesse vorüber, und wo sechs Tage der Geist wehen durfte, woher und wohin er wollte, vorausgesetzt, er hatte den Weg zwischen die Deckel eines Buches schon gefunden, werden bald die Textilb ahnen wehen, denn in Frankfurt jagen einander die Messen.

92.000 Neuerscheinungen aus 84 Ländern. Welche Frage, Botschaft, Meinung könnte ein Besucher mitgebracht haben — ohne damit rechnen zu müssen, sie alsbald in einem dieser vielen Bücher wiederzuerkennen?

Glücklicher Mensch, wer sich diesem Bücherberg, Bücherturm,Bücherbabel mit festen Antworten auf all die Fragen nähert, die heute die Welt bewegen — sofern es ihm um die Sache geht und nicht um die Priorität. Gleich, ob er weiß, wie der Weltfrieden zu garantieren, die Umwelt zu retten oder das Glück der Menschen herzustellen sei — nein, er braucht sich nicht auf den Marktplatz zu stellen und einer tauben, unwissenden Welt seine Wahrheit in die Ohren zu brüllen. Er kann beruhigt heimgehen. Die Welt kennt seine Wahrheit schon, egal, um welche Wahrheit es sich handelt— jedenfalls jener Ausschnitt der Welt, den ein paar Dutzende Bücher mit jeweils einigen tausend Exemplaren Auflage erreichen.

So viel der Welt auch fehlt — es fehlt ihr jedenfalls nicht an Aufrufen zur Menschlichkeit und Güte, sie sind da, sie werden im Namen vieler Religionen und Ideologien vorgebracht, auch jener, in deren Namen andere foltern und bomben.

Es fehlt der Welt auch keineswegs an Diagnosen, überzeugenden Analysen ihres Zustands, Warnungen vor dem, was ihr blüht, wenn sie weitermacht, wie bisher, an öko- und Umweltlite-ratur aller Schwierigkeitsgrade, rational oder mehr emotional, für jeden Intelligenzquotienten, jeden Geschmack.

Und es fehlt schon gar nicht an Rezepten, Vorschlägen zur Lösung all dieser Probleme, isoliert oder im Gesamtzusammenhang, argumentierend oder emotional beschwörend, mehr beim Einzelnen ansetzend oder die ganze Gesellschaft als Organismus betrachtend, und viele dieser Rezepte könnten ein wertvoller Beitrag sein zur Rettung dieser Welt — hätten wir bloß auch schon ein Rezept, sie wirksam werden zu lassen, vorher aber tunlichst auf schädliche Nebenwirkungen zu testen.

Auch jene Vorschläge zur Güte, Mahnungen, „Rezepte“, die keines Tests auf Unschädlichkeit bedürfen, weil sich jedem spontan erschließt, daß ihre Befolgung nur Gutes stiften könnte, sind in großer Zahl vorhanden. Die großen Mahner der Menschheit, die Vorbilder, vom heiligen Franziskus bis Mahatma Gandhi (letzterer, dank Messe-Motto Indien, heuer besonders), kommen Jahr für Jahr von neuem zu Wort, dieses wird immer wieder gedruckt, gekauft, gelesen.

Man müßte also ein von allen Entwicklungen abgeschotteter Insulaner sein, ein geistiger Kaspar Hauser, um nicht von der Fülle dessen erreicht zu werden, was der menschliche Geist zur Bewältigung der menschlichen Realität, zur Verbesserung der Welt und neuerdings zu ihrer Rettung, hervorgebracht und anzubieten hat.

Auf der Frankfurter Buchmesse treten, allem Buchmarkt-Pluralismus und Modenwechsel zum Trotz, gerade diese Kräfte immer stärker in Erscheinung.

Gewiß, sie ist von Jahr zu Jahr von neuen Kombinationen neuer und alter Trends und Strömungen geprägt. Dutzende Verlage dringen zum Beispiel von den Rändern (im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn) mit Indischem, mit Mystischem mit Den-Weg-nach-innen-Weisendem, mit östlicher Weisheit und auch allerhand östlicher Scharlatanerie zum Zentrum vor. Sie hatten heuer schon ganze Gänge besetzt. Indien als Motto der Messe wirkt keineswegs wie die Ursache, sondern eher, auch wenn anderen Überlegungen entsprungen, wie eine Reaktion auf den Trend.

Aber es ist frappant, wie konsequent, wie sinnenfällig, wie unbarmherzig und von Buchmesse zu Buchmesse deutlicher der Pluralismus der Verlagsprogramme (und der in vielen Verlagen nebeneinander herlaufenden Unter-und Nebenprogramme!) den Zustand einer Welt spiegeln, deren Friedenswille im Nebeneinander mit dem Rüstungswahn; deren „romantisches“ Bedürfnis nach heiler Welt im pas de deux mit ihrem Begräbnis unter Beton, Glas und Stahl; deren Zukunftsangst ohne Einfluß auf das jede Zukunft verrammelnde Tun an einen Kranken, Süchtigen, jeder Selbstkontrolle verlustig Gegangenen erinnern.

Wenn die Buchmesse als Messe des menschlichen Geistes Modellcharakter für die ganze Welt des Menschen hat... wenn wirklich Erkennen des eigenen Zustands, Krankheits-Einsicht, Voraussetzung jeglicher Therapie ist... dann darf man vielleicht doch mit einem Anflug von Hoffnung registrieren, welchen Tendenzen in der Modeerscheinung Flucht es gelungen ist, sich dauerhaft zu etablieren.

Viele Wellen kamen und gingen. Aber seit jener etliche Jahre zurückliegenden Buchmesse, die ganz im Zeichen des Friedens stand, ist dieses Thema aus den Programmen einer ganzen Reihe von Verlagen nie wieder verschwunden. Und da Verlage nicht — wie die Theater — subventioniert werden und nur produzieren können, was auch, und sei's teilweise zu herabgesetzten Preisen, verkauft wird, scheinen viele Menschen dauerhaft so für dieses und die damit zusammenhängenden Themen engagiert, daß es sich lohnt, für sie Bücher zu schreiben und zu drucken.

Auch die Dauerpräsenz des Themenkreises Umwelt und Ökologie währt schon zu lang für einen kurzlebigen Trend. Würden sich nicht viele Menschen Sorgen machen — würden sie auch nicht die vielen einschlägigen Bücher kaufen. Ein neues Gefahrenbewußtsein hat sich auf breiter Basis durchgesetzt und bildet hoffentlich die Basis, das Potential der Bereitwilligkeit, für notwendige, schmerzhafte Maßnahmen.

Menschenrechte, Unterdrük-kung von Meinungen, Unfreiheit in der Zweiten und Dritten Welt, nicht zu vergessen den Ausländer- und Minderheitenhaß in der Ersten, sind noch nicht ganz so virulente Themen. Aber der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der dieses Jahr Wladys-law Bartoszewski seinen Friedenspreis verlieh, hilft damit vielleicht einer Entwicklung nach, die doch auch nach innen, im eigenen Land, im Sinne einer Selbstkritik, auf die es doch immer vor allem ankommt, wirksam werden kann.

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