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Wende im Osten
Bei der Zweihundert-Jahrfeier der Französischen Revolution im Juli des vergangenen Jahres ahnte niemand, daß sich der Geist der Geschichte vorbehalten hat, dem Jahr 1989 eine Revolution zu bescheren, noch dazu ohne jegliche Ideologie, deren welthistorische Folgen gar nicht abzusehen sind. Dies meinte Carl Amery, Präsident des PEN-Clubs der BRD.
Dank der Initiative des österreichischen PEN-Clubs wurde Wien vom 26. bis 28. Februar zu dem Ort, an dem etwa vierzig Schriftsteller aus Ost und West, insbesondere Vertreter der neu gegründeten PEN-Zentren in der UdSSR und im Baltikum, eine erste Bilanz über die neue Lage in Europa erstellten: ein Ereignis, das auch von den ausländischen Medien breit kommentiert wurde. Weit ab von allem politischen Triumphalismus waren die Teilnehmer von Freude über die neu errungene Freiheit erfüllt, mag sie auch heute viele ungeklärte Fragen auf werfen, denn zuversichtlich erwartet man von der demokratischen Entwicklung eine leistungsfähigere Freiheit für morgen.
Freude herrschte, aber keinesfalls Euphorie. Erstmals seit der Spaltung Europas mußten die einen nicht mehr höflich, die anderen nicht mehr vorsichtig sein. Den Ton unbedingter Aufrichtigkeit schlug bereits der Generalsekretär des Internationalen PEN, Alexandre Blokh, in seinem Grundsatzreferat an.
Der Mißbrauch der Freiheit, sofern sie sich aus ihrer organischen Fügung an die Verantwortung löst, führe im Westen zur „idiotischen Zwangsvorstellung, die anderen allzeit und überall beeindrucken zu müssen". Auch der schwierigen Dialektik, welche der Freiheit anhaftet, wich Alexandre Blokh nicht aus: „Wenn man in der Freiheit immer weiß, was man soll, hat man keine Freiheit." Der Westen habe eine Regeneration der Werte dringend nötig. Die Hoffnung richte sich auch auf den Osten, dessen neuer Umgang mit der Freiheit zur geistigen Nahrung werden könnte.
Ex Oriente lux, ex Okzidente lu-xus - mit diesem Aphorismus von Stanislaw Lee paraphrasierte Gert Heidenreich, München, Blokhs Gedankengänge. Der intellektuelle Rang in den zahlreichen Kurzreferaten verbürgte eine Ausgewogenheit von kulturphilosophischen Betrachtungen und konkreter Stellungnahme zum Zeitproblem. So kommentierte Radko Pytlik, Prag, „das glorioseste Jahr des 20. Jahr-hunderts: 1989" mit der Überlegung, daß nun der Gewinn einer neuen - uralten - „dritten geistigen Dimension" unabweisbar geworden sei. Europa aus dem Zerfall des römischen Imperiums hervorgegangen, habe aus der Entfaltung des gallischen und des germanischen Talentes seine Größe, empfangen, den dritten im Bunde, die byzantinische Welt aber weitgehend verdrängt. Solle Europa zur Ganzheit verschmelzen, müsse diese slawische Welt voll integriert werden.
Es war eine Frau, die darauf drängte, die neue Weltlage auch als moralische Herausforderung an den Westen zu verstehen. Der Satz „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser" müsse unbedingt umgekehrt werden: „Kontrolle ist gut - Vertrauen ist besser", meinte Clara Györgyei. Der bedeutende Lyriker Karl Lubomirski sekundierte ihr mit seinen Forderungen nach konkreter Hilfe für die Oststaaten. Die „bequeme Epoche" gehe für den Westen zu Ende, denn er dürfe nicht zulassen, daß dieser „Aufbruch ans Kreuz geschlagen wird, das man Staatsräson nennt". Diesen Aspekt ergänzte der Basler Ernst Reinhardt kritisch: „Bei uns ist Freiheit nicht mehr Kern des Seins, sondern Garantie des Habens."
Der Selbstkritik des Westens stand der Osten in nichts nach. Diese reichte von der Wesensanalyse sozialer Utopien - wie bei Miodrag Peris'ic', Belgrad - bis zu deren Praxis, intellektuelle Sklaven hervorzubringen, die in vorauseilender Selbstzensur den Eingriff des Staates erübrigten. So meinte Mirko R. Mirkovic, Zagreb: „Aber selbst die utopischen Tiere sterben eines natürlichen Todes."
Verständlich, daß Völker nach langen Perioden der Unterdrückung nunmehr ihre Identität suchen und dabei in die Gefahr geraten, dem nationalistischen Wahn zu verfallen. (Ein „Balkan-Syndrom" wurde es von Symeon Hadzhikossew, Sofia, genannt.)
Große Besonnenheit und herzliche Offenheit charakterisierten die Ausführungen des bekannten russischen Erzählers Andrej Bitow, Vizepräsident des neu gegründeten russischen PEN-Clubs, der nun bereits alle Schwierigkeiten kennt, einen „armen Verein" auf dem Instanzenweg zur Legalität zu führen. Berührend war sein Rückblick auf die Tradition, zu der er sich bekennt, die seit zwei Jahrhunderten die „heimliche innere Freiheit" pflegt und zur höchsten schriftstellerischen Kultur entwickelt hat. „Nun blüht plötzlich die Wüste", sagte er. „Was aber ist giftig an deren Früchten, die jetzt in Freiheit wachsen?"
Durch Carl Amery, Präsident des PEN-Clubs der BRD, wurde das Freiheitsproblem um eine weitere Dimension vertieft: Ganze Landstriche Europas würden bereits in einem Zustand der Halbwüste verkommen. Was besagt da noch die sogenannte politische Freiheit? Was besagt da noch Literatur? Viel!
Wenn sie auch nicht unmittelbar bewegt, so trage sie doch - wie Peter Marginter, Wien, ausführte -dazu bei, die „kritische Masse" abzubauen: Was bisher imbeweglich schien, gerate in Bewegung, werde Anlaß zu Veränderungen, wofür die PEN-Regionalkonferenz nicht nur Zeugnis abgelegt hat. Sie selbst war ein Instrument solcher Veränderung.
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