7039295-1990_10_08.jpg
Digital In Arbeit

Wende im Osten

Werbung
Werbung
Werbung

Bei der Zweihundert-Jahrfeier der Französischen Revolution im Juli des vergangenen Jahres ahnte niemand, daß sich der Geist der Geschichte vorbehalten hat, dem Jahr 1989 eine Revolution zu bescheren, noch dazu ohne jegliche Ideologie, deren welthistorische Folgen gar nicht abzusehen sind. Dies meinte Carl Amery, Präsident des PEN-Clubs der BRD.

Dank der Initiative des österrei­chischen PEN-Clubs wurde Wien vom 26. bis 28. Februar zu dem Ort, an dem etwa vierzig Schriftsteller aus Ost und West, insbesondere Vertreter der neu gegründeten PEN-Zentren in der UdSSR und im Bal­tikum, eine erste Bilanz über die neue Lage in Europa erstellten: ein Ereignis, das auch von den auslän­dischen Medien breit kommentiert wurde. Weit ab von allem politi­schen Triumphalismus waren die Teilnehmer von Freude über die neu errungene Freiheit erfüllt, mag sie auch heute viele ungeklärte Fragen auf werfen, denn zuversicht­lich erwartet man von der demo­kratischen Entwicklung eine lei­stungsfähigere Freiheit für morgen.

Freude herrschte, aber keinesfalls Euphorie. Erstmals seit der Spal­tung Europas mußten die einen nicht mehr höflich, die anderen nicht mehr vorsichtig sein. Den Ton unbedingter Aufrichtigkeit schlug bereits der Generalsekretär des Internationalen PEN, Alexan­dre Blokh, in seinem Grundsatzre­ferat an.

Der Mißbrauch der Freiheit, so­fern sie sich aus ihrer organischen Fügung an die Verantwortung löst, führe im Westen zur „idiotischen Zwangsvorstellung, die anderen allzeit und überall beeindrucken zu müssen". Auch der schwierigen Dialektik, welche der Freiheit anhaftet, wich Alexandre Blokh nicht aus: „Wenn man in der Frei­heit immer weiß, was man soll, hat man keine Freiheit." Der Westen habe eine Regeneration der Werte dringend nötig. Die Hoffnung rich­te sich auch auf den Osten, dessen neuer Umgang mit der Freiheit zur geistigen Nahrung werden könnte.

Ex Oriente lux, ex Okzidente lu-xus - mit diesem Aphorismus von Stanislaw Lee paraphrasierte Gert Heidenreich, München, Blokhs Gedankengänge. Der intellektuelle Rang in den zahlreichen Kurzrefe­raten verbürgte eine Ausgewogen­heit von kulturphilosophischen Betrachtungen und konkreter Stel­lungnahme zum Zeitproblem. So kommentierte Radko Pytlik, Prag, „das glorioseste Jahr des 20. Jahr-hunderts: 1989" mit der Überle­gung, daß nun der Gewinn einer neuen - uralten - „dritten geisti­gen Dimension" unabweisbar ge­worden sei. Europa aus dem Zerfall des römischen Imperiums hervor­gegangen, habe aus der Entfaltung des gallischen und des germani­schen Talentes seine Größe, emp­fangen, den dritten im Bunde, die byzantinische Welt aber weitge­hend verdrängt. Solle Europa zur Ganzheit verschmelzen, müsse die­se slawische Welt voll integriert werden.

Es war eine Frau, die darauf drängte, die neue Weltlage auch als moralische Herausforderung an den Westen zu verstehen. Der Satz „Vertrauen ist gut, Kontrolle bes­ser" müsse unbedingt umgekehrt werden: „Kontrolle ist gut - Ver­trauen ist besser", meinte Clara Györgyei. Der bedeutende Lyriker Karl Lubomirski sekundierte ihr mit seinen Forderungen nach kon­kreter Hilfe für die Oststaaten. Die „bequeme Epoche" gehe für den Westen zu Ende, denn er dürfe nicht zulassen, daß dieser „Aufbruch ans Kreuz geschlagen wird, das man Staatsräson nennt". Diesen Aspekt ergänzte der Basler Ernst Reinhardt kritisch: „Bei uns ist Freiheit nicht mehr Kern des Seins, sondern Ga­rantie des Habens."

Der Selbstkritik des Westens stand der Osten in nichts nach. Diese reichte von der Wesensanalyse so­zialer Utopien - wie bei Miodrag Peris'ic', Belgrad - bis zu deren Pra­xis, intellektuelle Sklaven hervor­zubringen, die in vorauseilender Selbstzensur den Eingriff des Staa­tes erübrigten. So meinte Mirko R. Mirkovic, Zagreb: „Aber selbst die utopischen Tiere sterben eines na­türlichen Todes."

Verständlich, daß Völker nach langen Perioden der Unterdrückung nunmehr ihre Identität suchen und dabei in die Gefahr geraten, dem nationalistischen Wahn zu verfal­len. (Ein „Balkan-Syndrom" wur­de es von Symeon Hadzhikossew, Sofia, genannt.)

Große Besonnenheit und herzli­che Offenheit charakterisierten die Ausführungen des bekannten rus­sischen Erzählers Andrej Bitow, Vi­zepräsident des neu gegründeten russischen PEN-Clubs, der nun bereits alle Schwierigkeiten kennt, einen „armen Verein" auf dem In­stanzenweg zur Legalität zu füh­ren. Berührend war sein Rückblick auf die Tradition, zu der er sich bekennt, die seit zwei Jahrhunder­ten die „heimliche innere Freiheit" pflegt und zur höchsten schriftstel­lerischen Kultur entwickelt hat. „Nun blüht plötzlich die Wüste", sagte er. „Was aber ist giftig an deren Früchten, die jetzt in Freiheit wachsen?"

Durch Carl Amery, Präsident des PEN-Clubs der BRD, wurde das Freiheitsproblem um eine weitere Dimension vertieft: Ganze Land­striche Europas würden bereits in einem Zustand der Halbwüste ver­kommen. Was besagt da noch die sogenannte politische Freiheit? Was besagt da noch Literatur? Viel!

Wenn sie auch nicht unmittelbar bewegt, so trage sie doch - wie Pe­ter Marginter, Wien, ausführte -dazu bei, die „kritische Masse" ab­zubauen: Was bisher imbeweglich schien, gerate in Bewegung, werde Anlaß zu Veränderungen, wofür die PEN-Regionalkonferenz nicht nur Zeugnis abgelegt hat. Sie selbst war ein Instrument solcher Verän­derung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung