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Wenig Gerechte

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Shakespeares Hexen müssen jenen 9. November kreischend gefeiert haben. Wir Christen aber dürfen diesen Gedenktag nicht einfach vorbeigehen lassen, sonst machen wir uns zu Komplizen dieses Nazi-Szenarios, zu dem es gehörte, seine rohe Realität hinter einem klingenden Namen zu verbergen. Weit entfernt von kristallener Erleuchtung, war nach dieser Nacht der Boden mit Schutt, Asche und den Zeichen des Todes bedeckt.

„Sicherheitskräfte“ trieben zehn- bis zwanzigtausend jüdische Männer von 16 bis 60 Jahren zusammen und brachten sie in die Konzentrationslager, weil sie vom Stamm des Herschel Grynszpan waren, der in seiner Verzweiflung den Dritten Sekretär der deutschen Botschaft in Paris erschossen hatte, um die Welt auf das Schicksal der Juden unter dem Nazi-Regime aufmerksam zu machen.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels war der große Planer, die Funktionäre der unteren Ebene hetzten den Mob auf, der Pflastersteine durch die Scheiben der jüdischen Geschäfte schleuderte.

Mit pyromanischem Genuß zündeten sie die Synagogen an, überall in „Großdeutschland“ wurden die Häuser der Verehrung verbrannt, Thorarollen entweiht, in einem Ort töteten Halbwüchsige eine Jüdin, die versucht hatte, Kultgegenstände in Sicherheit zu bringen, und spielten anschließend mit den Gebetbüchern Fußball.

Die Parteifunktionäre inszenierten die Orgie des Hasses als spontanen Wutausbruch der Bevölkerung. Aber das Geschrei des Pöbels in jener Nacht war nicht die Stimme des deutschen Volkes.

„Die leiseste Sympathieäußerung“, schrieb der amerikanische Konsul in Leipzig in seinem offiziellen Bericht, „versetzte die Eindringlinge tatsächlich in Wut, so daß die Menge der Zeugen des Geschehens machtlos war und nur ihre Augen davon abwenden oder die Szene des Grauens verlassen konnte.“

Ich selbst erinnere mich an den Bruder eines Freundes, der wenige Wochen nach der „Kristallnacht“ von Hannover nach Paris gekommen war und weinend berichtete, was er gesehen hatte. Auch der Redakteur der

„Deutschlandberichte“, die die wechselseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel vertiefen sollen, erinnerte sich in einer Gedenkausgabe zu diesem Thema an jene dämonische Nacht. Als er mit 17 Jahren die Berliner Hauptsynagoge brennen sah, hörte er einen älteren Mann ausrufen: „Das bedeutet einen Fluch, der zu uns zurückkehren und uns heimsuchen wird!“

Noch deutlicher spricht der Mut einer längst verstorbenen Deutschen zu uns. Ich verdanke die Geschichte ihrer Tochter, die damals ein neunjähriges Mädchen war. Die Mutter nahm sie mit, als sie im Auftrag eines Klosters unterwegs war, um jüdische Familien mit den Papieren zu versorgen, die sie zur Auswanderung benötigten. Die Tochter erinnert sich daran, wie sie auf dem Weg den rauchenden Schutt einer in ihrer Nachbarschaft gelegenen Synagoge passierten.

Auf dem Rückweg kamen sie an einer Horde Menschen vor einem Stoffgeschäft vorbei. Die Mutter bahnte sich mit den Ellbogen den Weg durch die heulende Menge und sah den jüdischen Ladenbesitzer auf den Knien. Ein SS-Mann zwang ihn mit einer Reitpeitsche, die Scherben mit seinen bloßen, blutenden Händen in einen Kübel zu schaufeln. Als die beiden dazukamen, stieß der SS-Man gerade den Kübel um, so daß die Scherben auf dem Pflaster verstreut wurden.

Die Mutter faßte ihn am Arm und sagte mit entwaffnender Unschuld: „Würden Sie Ihren Vater so behandeln?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, rauschte sie an ihm vorbei, ging ins Haus und kam mit einem Besen und einer Mistschaufel zurück. Sie drückte beides dem SS-Mann in die Hand und sagte entschieden: „So, und jetzt helfen Sie ihm!“ Und - er tat es!

Alle Ehre dieser mutigen Frau, mögen manche dazu sagen, aber sie war nur eine! Es waren nur wenige, die den Juden zu Hilfe kamen ! Tatsächlich gab es viel mehr Menschen, die wußten, was vorging — aber bedeuten nicht jene wenigen, die halfen, einen Teil der himmlischen Güte?

Ich will also nicht beklagen, daß es damals nur wenige Retter gab. Ich singe lieber, privat wie öffentlich, deren Lob, und das Höchste, was ich zu ihren Ehren tun will, ist der Versuch, ihnen mit meinen geringen Mitteln nachzueifern.

Prälat Johannes Österreicher ist Österreicher, stammt aus einer jüdischen Familie und gründete in den USA em Zentrum zur christlich-jüdischen Begegnung. Er war an der Formulierung der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis zu den Juden maßgeblich beteiligt.

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