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Wenig Theorie

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Die Information über politische Ereignisse und Spannungen läßt uns allzusehr vergessen, daß die Probleme der Bevölkerungsvermehrung wichtiger für die Zukunft der Welt sind als alles Geschrei um politischen Streit. Jeden Monat wächst die Erdbevölkerung um rund 6 Millionen Menschen, das heißt: um mehr als 70 Millionen pro Jahr. Sie nähert sich einem Total von 4 Milliarden Menschen.

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Die Information über politische Ereignisse und Spannungen läßt uns allzusehr vergessen, daß die Probleme der Bevölkerungsvermehrung wichtiger für die Zukunft der Welt sind als alles Geschrei um politischen Streit. Jeden Monat wächst die Erdbevölkerung um rund 6 Millionen Menschen, das heißt: um mehr als 70 Millionen pro Jahr. Sie nähert sich einem Total von 4 Milliarden Menschen.

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Im vergangenen August fand unter der Ägide der Vereinten Nationen in Bukarest eine Weltkonferenz für Bevölkerungsfragen -statt. Ihren Beratungen lagen umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen über die Frage der Wachstumsbeschränkung oder -Stabilisierung zugrunde. Bekanntlich gingen die Auffassungen der Regierungsvertreter auf dieser Konferenz so stark auseinander, daß keine Einigung über die — von manchen geleugnete — Notwendigkeit einer Wachstumsbeschränkung erzielt werden konnte. Die Frage der Geburtenkontrolle und Familienplanung bleibt dem souveränen Ermessen der Staaten überlassen.

Im kommenden November wird am Sitz der Weltorganisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) in Rom eine internationale Konferenz über die Ernährung der rasch zunehmenden Weltbevölkerung .stattfinden. Das Thema hat vor jenem der Bevölkerungskonferenz den Vorzug, weniger theoretisch zu sein, denn die Frage, wie die’Nahrung für die wachsende Weltbevölkerung erzeugt und verteilt werden soll — ja, wie in den kommenden Jahrzehnten einer Hungerkatastrophe vorgebeugt werden kann, ist ein sehr konkretes Problem. Die Praktiker und Spezialisten in Agrarfragen werden Auskunft geben und Vorschläge machen müssen.

Die Notwendigkeit, sich zu ernähren, liegt allem Leben zugrunde. Heute müssen wir feststellen, daß die Menschheit, als Ganzes genommen, nicht mehr genügend Nahrung zu erzeugen vermag, um den zunehmenden Bedarf zu decken. Beim gegenwärtigen Tempo müßte die Lebensmittelproduktion im Weltmaßstab bis zur Jahrhundertwende gewaltig vermehrt, wenn nicht gar verdoppelt werden, wenn man auch nur die in manchen Regionen der Dritten Welt ungenügende Ernährung aufrechterhalten will.

Obschon dies notwendig ist, genügt eine Vermehrung der landwirtschaftlichen Produktion allein nicht. Die Künstdüngererzeugung, die Bewässerung, die Versorgung mit Energie, mit Pflügen, Maschinen und anderen Hilfsgütern stellt zusätzliche Probleme, die die Weltwirtschaft belasten und nach einer weltweiten industriellen Arbeitsteilung rufen. Sie lassen sich auch nicht lösen, wenn nicht genügend Finanzmittel eingesetzt werden können/ Ferner werden die Gebiete der Dritten Welt, vor allem Südasien, während langer Zeit gewaltige Zuschüsse an Getreide und anderen Nahrungsmitteln aus der nördlichen Erdkugel, vor allem aus Nordamerika, nötig haben, bis allmählich ein Gleichgewicht zwischen Bevölkertmgszahl, Nahrungserzeugung, technischer Ausrüstung und beruflicher Ausbildung in den unterentwickelten Weltgegenden erreicht werden kann. Glücklicherweise hat die Entwicklung der Landwirtschaft in Indien, Pakistan und China bereits große Fortschritte gemacht.

Die Wechselwirkung und Interdependenz verschiedener Faktoren ist eine Erscheinung, die als ein eigentliches Weltproblem aufgefaßt und global gelöst werden muß. Es setzt voraus, daß langfristige Abkommen zwischen den Staaten, ohne Rücksicht auf politische und ideologische Verschiedenheiten, geschlossen werden. Doch obgleich man von einem Welternährungsproblem spricht, stellt es sich in den verschiedenen Regionen der Erde unter völlig unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Schwierigkeiten, die bereits an der Bevölkerungskonferenz von Bukarest auftauchten und sich zweifellos an der Bmährungskonferenz in Rom von neuem bemerkbar machen werden, sind eine Folge der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse auf der Welt. Um die Lage zu verstehen und Methoden zu finden, die künftigen Hungerkatastrophen Vorbeugen können, wurden in einer grundlegenden Studie sämtliche Daten nach zehn Regionen erfaßt, es sind dies: Nordamerika, Lateinamerika, Westeuropa, die Sowjetunion und Osteuropa, Maghreb und Naher Osten, tropisches Afrika, Südasien, China, Japan, Australien und Südafrika. Damit gewannen die Forscher zehn verschiedene Einzelmodelle und gleichzeitig ein Gesamtmodell der Welt.

Graphische Darstellungen zeigen, daß die Bevölkerungsvermehrung in Nordamerika am langsamsten, in Westeuropa und Lateinamerika rascher, am schnellsten in China und (mehr noch) in Südasien vor sich geht. Es fragt sich nun, ob in der Dritten Welt das durchschnittliche Wachstum von heute beibehalten wird, ober ob im Falle einer Geburtenkontrolle diese bedrohliche Entwicklung abgebremst und bis in etwa fünfzig Jahren stabilisiert werden kann. Bei Anwendung einer Politik der Geburtenkontrolle würde sich allein in Südasien (ohne China) die Bevölkerung von gegenwärtig 1,3 Milliarden Menschen auf 3,8 Milliarden im Jahre 2025 vermehren. Wenn dieses demographische Wachstum während dieser Zeit nicht durch Massenhungersnöte verlangsamt wird, so wird der Jahresbedarf an Protein fortschreitend die Jahresproduktion von Protein übersteigen, so daß im Jahre 2025 ein Defizit von 50 Millionen Tonnen Protein entstehen wird. Ob diese Menge irgendwo auf der Welt verfügbar sein wird, und, wenn ja, wie ihr Transport und ihre Verteilung in Südasien vor sich gehen könnte, stellt aus heutiger Sicht umlösbare Probleme. Bei dieser Sachlage glauben die Sachverständigen eine ungeheure Kindersterblichkeit in den nächsten fünfzig Jahren in Südasien Voraussagen zu müssen.

Derartige Extrapolationen bieten keine sichere Gewähr für Voraussagen. Dennoch stehen wir bereits jetzt vor schwer lösbaren Prolemen des Bevölkerungswachstums.

Diese kritische Lage des globalen Bevölkerungswachstums und der sich verschlechternden Ernährungskonjunktur stellt die Regierungen und die Weltorganisationen vor eine große Verantwortung. Sie stellt vor allem die Forderung an die Verantwortlichen, mit aller gebotenen Dringlichkeit zu handeln.

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