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Weniger Wissen, mehr Phantasie

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Im Verhältnis zwischen Forschung und ihrer Anwendung, zwischen Wissenschaft und Politik bedarf es radikaler Neuanfänge und neuer Formen der Kooperation.

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Im Verhältnis zwischen Forschung und ihrer Anwendung, zwischen Wissenschaft und Politik bedarf es radikaler Neuanfänge und neuer Formen der Kooperation.

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Wir leben in einer faszinierenden Ubergangszeit, die voll von Hoffnungen, Ungewißheiten und Ängsten ist.

Wir sind Zeugen des Wandels des Nationalstaatsprinzips, dessen Ordnungsprinzip durch Wissenschaft, Technologie und Inter-nationalität stark verändert wird und es deshalb nicht mehr ratsam und gerechtfertigt erscheint, Bildungspolitik darauf zu bauen.

Wir erkennen neben den lokalen, nationalen und internationa-

len Fragen ganz deutlich globale menschheitliche Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten, wir bekennen Grund- und Freiheits-rechte in einem umfassenden fundamentalen Sinn, wir erkennen Konturen einer gemeinsamen menschlichen Zukunft, und wir anerkennen Rechte der zukünftigen Generationen als einen Teil der heutigen Politik.

Die wissenschaftliche Forschung hat einen neuen Stellenwert erhalten. Wir sind Zeugen des Wandels der Strukturpolitik— sowohl für einzelne Sachfragen als auch für ganze Politikbereiche und Industriezweige sind die mittel- bis langfristigen Planungen mit größter Unsicherheit behaftet, zu deren Definition und Beurteilung die wissenschaftliche Forschung unabdingbar geworden "ist.

Aber Lösungen können nicht bestellt werden, gefragt sind radikale Neuanfänge und neue Formen der Kooperation zwischen Forschung und Anwendung.

In Anerkennung der einen Menschheit, des gleichen Mensch-Seins und des gemeinsamen

menschlichen Schicksales, sind die Zielsetzungen der Bildungssysteme, ohne sie im Ganzen aufgeben zu müssen, neu zu orientieren und einzubetten in ein übergeordnetes Prinzip.

Dieses Prinzip sollte besonders auf die Lösung globaler Probleme eingehen und nicht nur den Menschen der gegenwärtigen Staatenwelt, sondern auch den zukünftigen Generationen dienen.

Diese Zielsetzung für Bildung erfordert eine grundsätzliche neue Bildungspolitik. Bildung wird heute noch immer allzusehr nationalistisch und utilitaristisch verstanden. Die Wissensvermittlung wird einseitig betont, und die Schule und andere formale Lernprozesse stehen gegenüber den gleich wichtigen informellen allzu sehr im Zentrum.

Wie kann es heute gelingen, die Lernkapazität aller Menschen und aller Gruppen zu erweitern, auszuschöpfen, um die Konflikte der Zeit und die Herausforderungen, die in dem feststellbaren Wandel liegen, bewältigen zu können?

Wie können Bildungsprozesse dazu beitragen, ein neues Sozialbewußtsein zu bilden? Das ist die wahre soziale Frage unserer Zeit.

So neuartig die geforderte oberste Zielsetzung für die Bildungspolitik erscheint, die dafür geforderte Erziehungskunst muß eine Wiederbesinnung auf klassische pädagogische Fragen und Ziele sein.

Das Verständnis für die Probleme der Zeit, Wissen, Kritikfähigkeit, Arbeitsleistung, Phantasie, Disziplin, Kreativität, Problemlösungskapazität, persönliche Initiative und Verantwortungsgefühl sind nicht durch Wissensvermittlung durch didaktische Tricks und nicht durch die Ver-

kündigung von Weltspartagen und Weltmilchtagen zu gewinnen.

Der erzieht zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, dem es gelingt, das magische Dreieck von Intellekt, Gemüt und Willenskräften wiederherzustellen.

Genauso wichtig ist es auch, den gegenwärtigen Einseitigkeiten der Lernprozesse, den Mängeln an sozialer Bildung abzuhelfen. Die Herrschaft der naturwissenschaftlichen Weltbilder ist zu brer eben, damit der ganze Mensen wieder in die Lern- und Lehrprozesse eingeschlossen wird.

Solches zu unternehmen, heißt die Freude am Lernen zu verschaffen und diese auch ein Leben lang zu erhalten.

Individuen und Organisationen mögen ganz unterschiedlich lernen, sie gleichen sich aber in ihrer Lernstruktur. Sie lernen lieber durch langsame Anpassung, daraus folgt, daß verhaltensändernde Denkweisen und wandelnde

Einflüsse viel zu spät eintreten und meist durch Krisen, Schocks und Katastrophen ausgelöst werden — öfter als durch kreative Lösungsversuche.

Individuen und Organisationen lernen außerdem zumeist ohne Mitgefühl und Verantwortung für andere und ohne Bewußtsein für fremde Identität und Autonomie. Diese Art zu lernen befähigt uns kaum für eine uns weitgehend unbekannte Zukunft.

Sie ist auch wenig solidarisch mit den Menschen dieser Welt und den zukünftigen Generationen ...

Bildung mag zwar weiterhin national verankert, aber sie muß international ausgerichtet und gestaltet sein.

Dr. Raoul Kneucker ist Generalsekretär des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Teilauszug (unkorrigierte Tonbandabschrift) eines Referates vor dem „Forum 90" der OVP, Dialogkonferenz „Wissenschaft und politische Praxis", am 24. Juni 1982 in Wien.

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