6962631-1985_01_13.jpg
Digital In Arbeit

Wenn das Lesen Heilung bringt

Werbung
Werbung
Werbung

In unserer christlichen Tradition lassen sich viele Heilmethoden nachzeichnen. Früher waren Priester und Mönche oft Seelsorger und Arzt zugleich; ein Beispiel war Pfarrer Kneipp, dessen Erfahrungen wir uns noch heute zunutze machen können.

Durch die Spezialisierung und Technisierung unserer Gesellschaft sind aber zahlreiche Heilmethoden in Vergessenheit geraten. Der Heilerfolg hängt aber nicht nur von medizinisch-technischen Apparaten oder von Medikamenten ab, sondern auch vom Verhältnis des Patienten zum Arzt, ja überhaupt von der Einsicht und vom Verständnis des Patienten zu seiner Erkrankung und zu seinen Heilungschancen.

Die vielfach gestörten Beziehungen des Menschen zu Gott, zur Schöpfung (Natur) und zu den Mitmenschen sind als ursächliche Momente von Krankheiten einzelner Menschen zu verstehen. Umweltvergiftungen vergiften auf Dauer auch den Menschen. Kriegsdrohungen und Gewaltanwendung zerstören die zwischenmenschlichen Beziehungen: Der Mensch wird „krank an der Gesellschaft”, wie der deutsche Psychiater Rudolf Affemann feststellte.

Hier eröffnet sich für eine zeitgemäße Pastoral, insbesondere für den Kranken(haus)-Seelsor-ger, ein breites Betätigungsfeld. Neben dem Gespräch können auch Bücher wichtige Anregungen bieten, welche einmal Ablenkung vom eigenen Schicksal und schließlich Ermutigung zur Beschäftigung mit der eigenen Krankheit bringen.

Im Jahre 1958 gründete der Pfarrer und Krankenhausseelsorger Karl Friedrich Euler, auf dieser Einsicht aufbauend, eine Beratungsstelle für Krankenlektüre an der medizinischen und an der Nervenklinik der Justus Liebig Universität in Gießen. Eulers Initiative zählte zu den Anfängen der Bibliotherapie in Deutschland. In Amerika war man bereits 150 Jahre weiter!

Bibliotherapie ist die Nutzbarmachung des Lesens für therapeutische Zwecke. Sie ist eine unterstützende Maßnahme in der Medizin sowie in der Psychiatrie und Psychotherapie. Wesentliche Bedeutung hat hierbei das Gespräch über das Gelesene.

Schon der Mensch der Antike war sich der Heilkraft des Lesens bewußt. So stand über vielen berühmten Bibliotheken des Altertums „Heilstätte für die Seele”. In der jüdisch-christlichen Uberlieferung ist die Bibel zum Heilmittel schlechthin geworden. Der Mensch wird krank aufgrund seiner Trennung von Gott und wegen seiner Sünde. Das Wort Gottes und das Gewissen machen diesen Zustand bewußt. Der Heilungsprozeß beginnt, wenn der Mensch eine geklärte Beziehung zu Gott anstrebt und somit wieder eins mit sich selbst und seiner Umwelt wird.

Bibliotherapeutisch bedeutsame Literatur wirkt vor allem dadurch, daß sie Tiefenschichten des Menschen berührt und unerkannte Kräfte des Individuums mobilisiert. Dies geschieht zum großen Teil über die Identifikation mit fremdem Schicksal. Der Kranke vermag Bedingungen des Menschseins und der Wirklichkeit auf wohltuende und heilsame Weise zu begreifen, vor allem dann, wenn ein Kranker in dem Buch sein eigenes Schicksal darstellt.

Durch den gezielten Einsatz von Dichtung können Prozesse ausgelöst werden, die tief in der Psyche verborgene Phantasie und archetypische Vorstellungen aktivieren.

In der Konzentration auf eine Geschichte kann der Patient Abstand von seinen Problemen nehmen, die ihn sonst völlig in Anspruch nehmen. Die Geschichten werden nahezu als Verschreibun-gen angeboten: Der Patient erhält die Aufgabe, einen Text zu lesen, über ihn nachzudenken, über ihn zu sprechen oder niederzuschreiben, wie er ihn versteht.

Bibliotherapie erweist sich oft als wesentliche Hilfe in der Patientenführung, besonders wenn es um Fragen des psychischen Gleichgewichts, der Belastbarkeit und Genesungswillens geht.

Es wäre verfehlt, Bibliotherapie nur auf akute Krankheitssituationen zu beschränken. Viele Menschen brauchen zwar noch keinen Therapeuten, werden aber dennoch mit ihren Lebenskonflikten nicht ohne fremde Hilfe fertig.

Dann gewinnt das Buch als Heilmittel bei beginnenden seelischen Störungen sowie bei der Bewältigung von Lebenskrisen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.

Der Autor ist Krankenhausseelsorger.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung