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Wenn der Bär Honig aus dem Bienenkorb stiehlt..

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Der Pekinger Volkskongreß zeigte einmal mehr, daß die chinesische Führung fest davon überzeugt ist, die UdSSR werde China angreifen. Seit mehr als einer Dekade stehen sich je eine Million sowjetische und chinesische Soldaten „Aug in Aug“ entlang der längsten Staatsgrenze der Welt gegenüber. An der 7000-Meilen-Grenze auf dem Pamir-Hochplateau und in Sibirien beherrschen militärische Hektik und Nervosität die Szene. Erst unlängst behauptete Marschall Hsu Hsiang-chen, Sowjetformationen hätten nächtliche Angriffe entlang der Grenze durchgeführt.

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Der Pekinger Volkskongreß zeigte einmal mehr, daß die chinesische Führung fest davon überzeugt ist, die UdSSR werde China angreifen. Seit mehr als einer Dekade stehen sich je eine Million sowjetische und chinesische Soldaten „Aug in Aug“ entlang der längsten Staatsgrenze der Welt gegenüber. An der 7000-Meilen-Grenze auf dem Pamir-Hochplateau und in Sibirien beherrschen militärische Hektik und Nervosität die Szene. Erst unlängst behauptete Marschall Hsu Hsiang-chen, Sowjetformationen hätten nächtliche Angriffe entlang der Grenze durchgeführt.

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Besagter 72jähriger Marschall ist ein Held der chinesischen Polit-Mytholo-gie, ein Veteran des „Langen Marsches“ und eine Stütze des mächtigen Kommandeurs der Militärregion Kanton. Marschall Hsu wörtlich: „Die Sowjets okkupierten illegal 386.000 Quadratkilometer chinesischen Territoriums. Schon im vorigen Jahrhundert annektierten sie riesige Gebiete im sowjetischen Fernen Osten. Wir fordern diese Gebiete als historisches chinesisches Land zurück.“

Die Chinesen sind überzeugt, daß China der Hauptzielpunkt der sowjetischen Globalstrategie ist! Die UdSSR sei bemüht, China von Land und See her einzukreisen, um es zu vernichten. Da China noch keine globale Macht ist, versucht Peking nicht nur in den benachbarten asiatischen Ländern, sondern auch im fernen Afrika und Lateinamerika Einflußsphären zu schaffen, von denen aus gegen diese Sowjetstrategie operiert werden kann.

Ausländischen Besuchern in China wird nicht nur die Große Mauer gezeigt, sondern auch die unterirdischen Tunnelnetze in den Großstädten Shanghai, Peking, Nanking und Kanton. Seit der Okkupation der CSSR und der Verkündigung der „Breschnew-Doktrin“, die eine gewaltsame Intervention in einem „brüderlichen Land“ rechtfertigt, haben die Chinesen in den größten Städten eine unterirdische „Große Chinesische Mauer“ mit Strom- und Wasserversorgung, Fabriken, Geschäften, Spitälern, Lager- und Schutzräumen errichtet. Gleichzeitig haben sie einen Teil der Industrie dezentralisiert, auch ihre Nuklearanlagen in Sinkiang.

Die russisch-chinesischen Scharmützel auf den Inseln des Ussuri-Flus-ses oder anderswo in den Grenzgebieten können an jedem Tag zu einem größeren Konflikt ausarten. Im entscheidenden Moment kann die Sowjetarmee einen nuklearen oder konventionellen „Blitzkrieg“ gegen China entfesseln, dessen unmittelbare Ziele die Zerstörung der chinesischen Atombasen und die Eroberung der Mandschurei sein würden. Peking und Shanghai könnten die weiteren Angriffsziele sein. China würde zweifellos die Taktik der alten Strategen anwenden: den Aggressor weit ins Land vorrücken, um ihn dann im „Menschenmeer“ der 800 Millionen ertrinken zu lassen. Die Chinesische Armee, Kriegsmarine und Luftwaffe sind ungefähr vier Millionen Mann stark, ergänzt durch eine Volksmiliz mit rund fünf Millionen Bewaffneten.

Im Klub der Auslandskorrespondenten in Hongkong ist das Hauptgesprächsthema erfahrener Chinabeob-

achter, Zeitungsleute und Experten mit langjähriger Erfahrung seit langem die Möglichkeit eines Krieges zwischen China und der Sowjetunion. Nüchterne Korrespondenten glauben, daß die Kriegsgefahr in den vergangenen zwei Jahren zwar etwas kleiner geworden sei, sie betrachten die sibirische Grenze zusammen mit der Grenze auf der koreanischen Halbinsel jedoch nach wie vor als außerordentliche weltpolitische Gefahrenzonen.

Die sowjetische Bevölkerung erfuhr 1963 von Chruschtschow zum ersten Mal von dieser Gefahr, als er zugab, daß in fünf Jahren mehr als 5000 Scharmützel an der sibirischen Grenze stattgefunden hätten, täglich also 15 kleinere Gefechte. Sind die Chinesen aber stark genug, um der sowjetischen Militärmacht in einem Krieg widerstehen zu können? Ein Militärexperte der „New York Times“, der in diesem Jahr drei Wochen in China verbracht hat, meinte: „Die chinesischen Soldaten sind zwar gut ausgebildet und physisch fit, aber ihre Ausrüstung ist veraltet. Die Luftwaffe fliegt sowjetische MiG-19-Maschinen, deren Fabrikation in der UdSSR schon vor 20 Jahren eingestellt wurde. Die Kriegsmarine ist praktisch nur eine Küstenverteidigungsformation. Auf dem nuklearen Feld sind die chinesischen Zustellungssysteme lasch.“ Der Journalist weiter: „Abgesehen vom Menschenreichtum Chinas neigt die militärische Balance derart zugunsten der Sowjets, daß Peking zögern würde, Atomwaffen zu benützen...“

Die chinesische Führung ist der Ansicht, daß die Bedrohung dann einen gefährlichen Punkt erreicht, wenn Westeuropa die militärische Verteidigung nicht verstärkt. Eine schwache NATO gebe den Sowjets die Gelegenheit, ihre massiven Kräfte aus dem europäischen Rußland und dem Ostblock abzuziehen und an die sibirische Grenze zu,verlegen. Mit dieser Streitmacht, zusätzlich mit den in Sibirien bereits stationierten 45 Sowjetdivisionen, könne Moskau den Krieg gegen China vorbereiten.

Was aber geschieht wirklich, wenn die Sowjetunion die Mandschurei besetzen sollte, die für die chinesische Wirtschaft so wichtig ist? Der bereits zitierte Militärexperte der „New York Times“ dazu: „Nach Auffassung junger chinesischer Offiziere werden die Sowjets ihre Anstrengungen auf die Mandschurei konzentrieren, um sie im entscheidenden Moment mit einer Operation zu besetzen. Wäre diese einmal besetzt, würden die Sowjets die Chinesen dann herausfordern: Kommt und werft uns wieder hinaus: Die Chinesen wären gezwungen, das zu versuchen.

Ein asiatischer Korrespondent in Hongkong war gleichfalls der Meinung, daß eine sowjetische Operation denkbar wäre. Im Hinblick auf einen Sieg Moskaus in der Mandschurei war er aber skeptisch, ungeachtet dessen, ob Japan, Westeuropa oder die USA in Aktion treten würden: „Die Konsequenzen wären jedenfalls ein russisch-chinesischer Krieg“, meinte der Journalist und fügte hinzu: „Haben Sie schon einen Bären gesehen, der Honig aus einem Bienenkorb gestohlen hat? .. .Die Bienen schwärmen um ihn herum und unabhängig davon, wie stark der Bär ist, kann er nur versuchen, den jagenden Bienen zu entkommen. Einige von ihnen kann er erschlagen, schließlich muß er aber rennen, muß fliehen und verliert dabei den Honig...“

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