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Wenn die Gegenwart schrumpft

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„Mit uns zieht die Neue Zeit" - so sangen Hitlers Pimpfe in den dreißiger Jahren. Auch sie verspürten den Kraftzuwachs, den die Gewißheit verschafft, mit der Geschichte im Gleichschritt zu marschieren. Im Horst-Wessel-Lied trug der Feind die Kennzeichnung „Reaktion". Selber hatte man die Partei der Zukunft ergriffen.

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„Mit uns zieht die Neue Zeit" - so sangen Hitlers Pimpfe in den dreißiger Jahren. Auch sie verspürten den Kraftzuwachs, den die Gewißheit verschafft, mit der Geschichte im Gleichschritt zu marschieren. Im Horst-Wessel-Lied trug der Feind die Kennzeichnung „Reaktion". Selber hatte man die Partei der Zukunft ergriffen.

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Die totalitären Parteien, Nationalsozialismus wie Internationalsoziaiismus, existierten geschichtsgewiß. Die Entdeckung der eigenen Zeit als neuer Zeit gehört zu den Voraussetzungen dieser Gewißheit. Es handelt sich dabei um eine recht junge Entdeckung. Exemplarisch zeigt uns das die Geschichte der Utopie. Bis tief ins 18. Jahrhundert hinein projizierten die Utopien ihr Bild einer besseren Welt literarisch in den fernen Raum auf entlegene Inseln.

Mit der Eroberung des Raums in den großen Entdeckungsfahrten entfiel diese Möglichkeit. Hinzu kam, daß man, im 18. Jahrhundert, der Geschichte als eines gerichteten Prozesses ansichtig wurde. Herkunftserfahrung und Zukunftserwartung traten auseinander. Die bessere Gegenwelt zur eigenen Welt wurde nun literarisch an den Horizont der Zukunft projiziert.

Die großen Geschichtsphilosophien nehmen das auf. In politische Ideologie umgesetzt heißt das: Der Geist der neuen Zeit wird zum Parteigeist. Eine größere politische Legitimität als die, sich in Übereinstimmung mit dem erkannten Geschichtslauf zu befinden, ist nicht denkbar. Man repräsentiert als Partei bereits gegenwärtig die Zukunftsmenschheit in Vorhutgestalt.

Die Konsequenzen dieser geschichtsphi-losophisch-ideologischen Orientierung der Politik an einem als grundsätzlich begriffenen Geschichtslauf sind erheblich. Erstens hat man den Lauf der Dinge gegen seine Aufhalter zu beschleunigen. Man wird zum Revolutionär in Permanenz. Zweitens

wird die Politik in einem bisher nicht gekannten Ausmaß potentiell terrorfähig, nämlich durch die Diskriminierungsfolgen der nunmehr hergestellten Deckungsgleichheit von alt und neu einerseits und schlecht und gut andererseits. Drittens freilich schlägt eine ideologisch so orientierte Politik, wo immer sie gesiegt hat, zwangsläufig in Ultrakonservativismus und Dogmatismus um. Nichts ist ja konservierungsbedürftiger als jene Doktrin, die einen als in weltgeschichtlich privilegierter Position befindlich zu sein bestätigt.

In unserem eigenen Jahrhundert hat über siebzig Jahre lang der Totalitarismus politischer Geschichtsgewißheit Weltgeschichte gemacht. Karl Popper hat die vermeintliche Einsicht in die Gesetzmäßigkeit historischer Abläufe „historizistisch" genannt, und er hat sein Buch „Das Elend des Historizismus" den Opfern des Irrglaubens an die Existenz von Geschichtsgesetzen gewidmet. In zurückgenommener, nämlich wissenschaftstheoretischer Weise ausgedrückt, besagt dieser Irrtum, daß die unverkennbare Gerichtetheit der zivilisatorischen Evolution eben keine Zielgerichtetheit ist, daß die beschleunigenden, ordnungsstiftenden oder auch ordnungs-auflösenden Innovationen innerhalb dieses Prozesses kontingenten Charakter haben - mit der Wirkung, daß die Evolution als solche, unbeschadet ihrer Gerichtetheit, nicht prognostizierbar ist. Einfacher gesagt: Die Zukunft der kulturellen Evolution ist offen, und eine Politik, die sich statt dessen an einer Ideologie orientiert, die die Zukunft als eine durch gesetzmäßige Epochenabfolge besetzte Zukunft behandelt, verwandelt daher zwangsläufig auch die Gesellschaft von einer offenen in eine geschlossene Gesellschaft.

Inzwischen ist der Totalitarismus gescheitert. Sieht man genau hin, so erkennt man, daß er in letzter Instanz an der Lebensunwahrheit des Versuchs gescheitert ist, den vermeintlich nach Richtung und Ziel erkannten Geschichtslauf moralisch und politisch verbindlich zu machen. Die unvermeidlichen Scheiternsfolgen dieses Versuchs, als Neuzeit-Avantgarde zu existieren, hätte man früh schon am

heiteren Exempel des künstlerischen Avantgardismus studieren können. 1909 gab Marinetti in seinem ersten futuristischen Manifest die Verpflichtung aus, künstlerisch wie politisch sich jeweils an der Spitze des Zeitpfeils zu orientieren. „Ein Rennwagen" sei „schöner als die Nike von Samothrake", so dekretierte der große Neuerer, dem man später nicht zufällig als Kunstpapst Mussolinis wiederbegegnen sollte. Wie veraltet erscheint uns dieser Rennwagen inzwischen. Die Nike von Samothrake hingegen, die aus dem späten dritten nachchristlichen Jahrhundert stammt, hat als Werk klassischer Kunst die vergangenen 80 Jahre alterungslos überstanden.

Wer sich vorbehaltlos der jeweils neuesten Zeit anvertraut, wird ihr Opfer. Der Fortschritt frißt seine Kinder. Wer heute bereits von morgen sein möchte, ist übermorgen selber von gestern. Der Sturz der Denkmäler, die der siegreiche politische Avantgardismus einst errichtet hatte, symbolisiert heute die als unlebbar erwiesene Verpflichtung, als Ge-schichtssinnvollstrecker wider alle Fortschrittsverweigerer Partei ergreifen zu sollen.

Fortschritt als Attraktivität

Die skizzierte totalitäre Transformation historizistischer F.ortschrittsgeschichtsphiloso-phie bedeutet natürlich nicht, daß es in Wahrheit einen Fortschritt gar nicht gegeben habe und damit auch keine Neuzeit, die sich sinnvoll Zeiten entgegensetzen ließe, die von ihrer Neuzeitlichkeit noch gar keinen Begriff hatten. Die Fristen, innerhalb derer in der Wissenschaft wie in der Technik, in der Ökonomie wie in der Kunst, das jeweils Neue das Alte überbietet und ablöst, bis es dann selber veraltet, waren niemals, kürzer als heute. Gegenwartsschrumpfung findet statt, das heißt die Extension der Zeit, für die wir mit einigermaßen konstanten Lebensverhältnissen rechnen können, nimmt ab.

Sogar von Fortschritt läßt sich noch reden, aber nur dann, wenn das nicht mehr heißen soll, sich beschleunigt einem vermeintlichen Ziel der Geschichte anzunähern. Fortschritt -dieser Begriff ist nur zu retten, wenn man ihn trivialisiert. Fortschritt - das ist dann nichts anderes als der banale, aber elementar wirksame Vorgang zivilisatorischer Verbesserung unserer Lebensverhältnisse. Fortschritt ist in dieser Bedeutung genau das, worauf heute die sogenannte Dritte Welt hofft.

Es wäre nichts als Wohlstandsbomiertheit, diese Hoffnung für illusionär zu erklären. Wem die Lebensvorzüge der zivilisatorischen Neuzeit in reichem Maße zuteil geworden sind, hat keine besondere Glaubwürdigkeit, wenn er die Armen und Elenden, die endlich auch in sie eintreten möchten, vor ihr warnt.

Gleichwohl ist es kein Zufall, daß die Attraktivität des Fortschritts und damit der Neuzeit, die er uns gebracht hat, mit seinen durchaus realen Erfolgen abnimmt. Die Folgelasten des Fortschritts wachsen inzwischen rascher als die Lebensyorzüge, die er uns gebracht hat und bringt. Ökonomisch ausgedrückt heißt das: Der Grenznutzen des Fortschritts nimmt ab, und damit löst sich auch die Borniertheit auf, die uns die Güter des Lebens geringschätzen ließ, für deren fortdauernde Nötigkeit es keinen Unterschied macht, ob unsere Lebenszeit in neue oder in weniger neue Zeiten fällt.

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