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Wenn die Lumpen kommen...
Vierzig Jahre lang waren Bür-» ger Osteuropas unter oftmals dramatischen Umständen nach Westeuropa geflüchtet. Viele fühlten sich ein bißchen als „Helden", wenn sie es endlich geschafft hatten. Und die Strategen des Kalten Krieges im Westen taten noch das ihrige, um diesem Gefühl Nachdruck zu verleihen.
Nun, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Solidarität der sozialistischen Brüderlichkeit werden die Länder Osteuropas selbst mit Flüchtlingswellen konfrontiert. Deren Behandlung läßt aber stark zu wünschen übrig. Diesen Flüchtlingen fehlt das Heldenflair; sie sind keine Verbündeten im Krieg der Worte. Und sie kommen in Länder, wo die ortsansässige Bevölkerung schon mit der Sicherung der eigenen Existenz schwer zu kämpfen hat.
Von der Flüchtlingswelle besonders betroffen ist Ungarn (siehe FURCHE 41/1990), wo Zehntausende Rumänen eine neue Heimat finden wollen! In der Sowjetunion gibt es derzeit - nach Angaben der Nachrichtenagentur Nowosti -600.000 Flüchtlinge. Aber auch in den anderen osteuropäischen Ländern hat man damit Probleme: Ein paar hundert Flüchtlinge aus Rumänien machen der Tschechoslowakei bereits ernsthafte Sorgen.
Man war ja immer daran gewöhnt gewesen, daß die eigenen Leute davonlaufen wollen. Aber daß jemand „herein" möchte? Jetzt je-denfall stehen Regierung und Bevölkerung vor bisher ungekannten Schwierigkeiten: Vom rechtlichen Aspekt her, weil unser nördlicher Nachbar die internationale Flüchtlingskonvention nicht anerkennt. In der Verfassung wird im Artikel 33 zwar theoretisch das „Recht auf Asyl" erwähnt. Aber nach Art anderer Gummiparagpraphen aus der kommunistischen Ära existieren keine Bestimmungen bezüglich ihrer konkreten Anwendung. Dieser Mangel erregte erstmals Anfang April öffentliches Aufsehen: Der Sowjetsoldat Alexander V. Masljajew hatte in Prag um Asyl angesucht. Die Behörden fühlten sich durch sein Ansinnen derart überfordert, daß man ihn - nach einigem Hin und Her - kurzerhand wieder bei der sowjetischen Kommandantur absetzte.
Neu genährt wurde die Debatte um Gewährung von Asyl Mitte August, als Hunderte von Rumänen in Prag strandeten. Für die Unglücklichen wurden in Böhmen drei provisorische Sammellager eingerichtet, zumeist in verlassenen Kasernen der Sowjetarmee. Zur großen Unfreude der Anrainer. So drangen Ende August in das Lager Jablonecek bei Mimon 300 Dorfbewohner ein und stellten erbost die Lagerleitung zur Rede. Die Leute konnten erst mit dem Versprechen, wenigstens bald eine Kläranlage zu installieren, beruhigt werden.
Als Ende August in Decin an der Elbe sich an die 200 Rumänen aufhielten, waren die Bewohner alarmiert : Während ein Teil Kleider und Medikamente spendete, wurde der Magistrat mit wütenden Protesten überschüttet. Die Rumänen seien doch alle „Träger von AIDS und Cholera" (ähnliches war auch in Österreich zu hören, siehe Niederle-Glosse in FURCHE 18/1990)und sie „stehlen und belästigen die Leute".
Der Bürgermeister von Decin, Vratislav Cvejn, wehrte diese Angriffe standhaft ab. Die Rumänen seien doch „kein Freiwild". Sie hätten gültige Reisepässe und damit Anrecht auf einen dreißigtägigen Aufenthalt, wo sie sich doch frei im Lande bewegen könnten. Als Soldaten in einem Obstladen für die Flüchtlinge Tomaten und Paprika kaufen wollten, wurden sie von der Verkäuferin barsch zurückgewiesen: „Die haben wir nur für unsere Leute."
Unter dem Titel „Sind wir Faschisten oder Humanisten?" kommentierte das Massenblatt „Sme-na" sarkastisch: „Die Leute hätten wohl am liebsten, daß alle Rumänen in ein Ghetto, das mit Stacheldraht umzäunt und von Hunden bewacht ist, gesteckt würden." Die tschechische Tageszeitung „Mlada fronta" veröffentlichte einen Kommentar von „Dreptatea", dem Organ der rumänischen Bauernpartei, in dem darüber geklagt wird, daß die Tschechen doch seinerzeit, als sie auf der Flucht waren, immer freundliche Aufnahme gefunden hätten. In dieselbe Kerbe schlug auch „Lidove noviny": „Unsere Flüchtlinge haben von den noch ärmeren Rumänen auch noch deren Letztes bekommen", in der Tsche-cho-Slowakei glaube man hingegen, daß das Land „zusammenbrechen wird, wenn wir ein paar hundert Rumänen aufnehmen".
Unlängst wandte sich der bekannte Schauspieler Pavel Lan-dovsky im Fernsehen gegen die zunehmende Fremdenfeindlichkeit seiner Landsleute. Zwei Tage später, als er Semmeln kaufen wollte, verweigerte ihm die Verkäuferin eine Dienstleistung mit der Aufforderung, er solle woanders einkaufen gehen, wenn er „solche Lotterleute, die hergekommen sind, um zu stehlen", verteidige. Landovsky berichtete, daß ihn manche Leute in der Warteschlange „verbal gelyncht" hätten. Seinen Einwand, daß er selber als Flüchtling in Österreich freundlich behandelt worden sei, ließen die aufgebrachten Leute nicht gelten: Aus der Tschecho-Slowakei seien Ärzte, Ingenieure weggegangen, bei den Rumänen handle es sich um „ Lumpenproletariat".
Inzwischen hat auch die Tschecho-Slowakei die Grenzkontrolle verschärft. Durchreisende müssen ein Visum ihres Ziellandes vorweisen könen. Bei Reisen in die CSFR muß man eine offizielle Einladung oder eine Bestätigung für die Notwendigkeit des Aufenthaltes - etwa anläßlich eines Kururlaubes - vorlegen. Aber trotz dieser Maßnahmen kommen fortwährend asylsuchende Rumänen ins Land. Zusätzlich erwartet man in nächster Zeit an die 5.000 Sowjetbürger und Bulgaren.
Nun diskutiert man, wem man eigentlich Asyl zugestehen müsse, da doch nur zehn Prozent der Flüchtlinge aus „politischen" Gründen kommen. Vor einigen Wochen tagte in Prag ein Ausschuß von Vertretern kirchlicher und humanitärer Organisationen, wo man dafür votierte, die „anderen" Flüchtlinge zur'Heimkehr zu bewegen. „Haben die Leute in der Tschecho-Slowakei schon vergessen, wie das Leben im Tota-litarismus aussieht?" geißelt „Lidove noviny" die allgemeine Klein- , kariertheit.
Nicht weniger unfreundlich werden nach Ungarn strömende Flüchtlinge aus Rumänien behandelt, vor allem wenn sie nicht „magyarische" Stammesgenossen sind. Zur wahren Katastrophe entwickelt sich inzwischen das innersowjetische Flüchtlingsproblem.
Derzeit gibt es in Moskau offiziell über 600.000 Flüchtlinge. Die Stadtverwaltung hat Tausende von Betten in Hotels und Jugendherbergen angemietet. Trotzdem müssen noch Zehntausende Flüchtlinge als U-Boote in der Stadt um ihr Uberleben kämpfen. Im August publizierte „Moscow News" eine Meinungsumfrage, dergemäß nur 21 Prozent der befragten Moskauer den Flüchtlingen Gastfreundschaft zugestehen. 42 Prozent wollen alle nicht-russischen „Eindringlinge" notfalls mit Gewalt vertreiben. Dies ist ein Paradox, denn gleichzeitig erwarten sich 40 Millionen auswan-derungswillige Sowjetbürger freundliche Aufnahme im Westen.
Als vor ein paar Wochen in einer mittelasiatischen Stadt das Gerücht umging, daß ein paar tausend armenische Flüchtlinge aufgenommen würden, kam es zu einem blutigen Aufstand, den das Militär niederschlagen mußte. Anlaß der Aufregung: Angeblich sollten die Neuankömmlinge bei der Wohnungszuteilung bevorzugt werden.
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