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Wenn die Wiener wählen gehen...

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Der Termin-Poker um die Wiener Gemeinderatswahl hat die zu erwartende Wende genommen: Nachdem sich die Wiener Sozialisten fast zwei Wochen hindurch eine Diskussion um die Vorverlegung der im Oktober fälligen Wiener Gemeinderatswahlen von der ÖVP aufzwingen ließen, mußte sich Leopold Gratz beim Bundeskanzler Nachhilfe geben und sagen lassen, daß ein Politiker, will er erfolgreich sein, nicht grundlos in Neuwahlen flüchtet und daß Oktober-Wahlen laut Statistik SPÖ-Wahlen sind. Geändert hat sich aber nichts: Nervosität und Wahlfieber stehen in Wien weiter auf dem Speisezettel der Parteien.

Auch ohne Politiker-Poker um den Wahltermin ist die politische Arena Wiens seit geraumer Zeit aufgeheizt. Auslösender Funke war die altersschwache Reichsbrücke, die es am 1. August 1976 vorzog, sich in die Fluten der Donau zu stürzen, statt noch . länger auf die „Gesundenuntersu-chung“ der Straßenverwaltung zu warten.

Was im Anschluß daran passierte, haben wir noch in guter Erinnerung: Bürgermeister Leopold Gratz lieferte eine dramatische Abschiedsszene ohne Abschied, ein Brückenstadtrat wurde von der Bühne geholt, um sich bald danach wieder als oberster Kommunaltheoretiker der SPÖ vor den Vorhang bitten zu lassen. Resultat für die Sozialisten: Ein Schrecken mit (glücklichem) Ende.

Für die Wiener ÖVP hingegen war die Affäre ein (vorläufiges) Ende mit Schrecken: Die letzten Reste ihrer oppositionellen Vitalität schienen mit der Reichsbrücke eingestürzt zu sein, und Landesparteiobmann Franz Bauer mußte auf innerparteilichen Druck seinen Sessel räumen - ein Opfer, das ihm durch das zugesagte Avancement zum schwarzen Beschwerdebriefkasten der Nation nicht besonders schwerfiel.

Von nun an hieß die große Unbekannte Erhard Busek. Für die SPÖ wie für die ÖVP.

Die Sozialisten haben berechtigte Zweifel, ob es ihnen bei den kommenden Wahlen gelingen wird, die am 21. Oktober 1973 eroberte Position zu halten. Damals brachte es eine nach dem Slavik-Tief in Jubel- und Aufbruchsstimmung versetzte SPÖ auf 60,1 Prozent der Stimmen. Neuling Leopold Gratz, fortan genannt: der Bürger-Poldi, hatte seine Vorschußlorbeeren und durch ein seiner Partei günstiges Wahlrecht 66 von 100 Sitzen im Wiener Gemeinderat.

Charakteristisch für die letzten Gemeinderatswahlen war jedoch auch die für Österreich sensationell niedrige Wahlbeteiligung mit 78,8 Prozent: 257.905 Wiener blieben den Wahlurnen fern... fast gleich viele Wiener, wie der ÖVP ihre Stimme gaben: Mit 278.280 Stimmen oder 29,3 Prozent hatte die Volkspartei ihre Position als zweitstärkste Partei gegenüber der „Partei der Nichtwähler“ gerade noch halten können!

Die hohe Wahlenthaltungsrate 1973 ist sicher nicht nur durch die Ausflugsfreude der Wiener zu erklären. Bei den Nationalratswahlen 1975 (auch im Oktober) enthielten sich „nur“ 147.656 Wiener der Stimme, mehr als 100.000 Nichtwähler weniger als zwei Jahre zuvor. Eine der Ursachen war sicherlich, daß sehr viele der Nichtwähler ihr Herz bei der ÖVP hatten, bei vorangegangenen Wahlen und bei den späteren Nationalratswahlen wahrscheinlich auch die ÖVP wählten, angesichts ihrer so inkonsequenten Politik dieser Partei aber ihre Stimme nicht geben wollten.

Bei den bevorstehenden Gemeinderatswahlen könnte sich manches ändern: Des Bürgermeisters Vorschußlorbeeren sind längst welk, sein einst eindrucksvoller Katalog der guten Vorsätze ist mittlerweile ein Katalog der nicht eingelösten Versprechen (siehe Wahlrechtsreform, siehe Stadtplanungskonzept); eingebrochene und einbrechende Brücken, schadhafte Gasrohre, Unfälle am laufenden Band auf der Stadtbahn, den Bauring-Skan-i dal nicht zu vergessen sowie zuletzt das Weststadion geben nicht die beste Visitenkarte ab. Auch ein paar eröffnete U-Bahn-Kilometer werden kaum noch Wunder wirken. Daß im heurigen Jahr 10,8 Milliarden Schilling für städtische Baumaßnahmen vorgesehen sind, ist sicher zu begrüßen. Doch die Kehrseite der Medaille schlägt auch zu Buche: Eine Verschuldung von 30 Milliarden Schilling, eine Summe, die vor vier Jahren nur halb so hoch war. ^

Freilich muß all das noch nicht bedeuten, daß der ÖVP unter Erhard Busek ein Einbruch in Kernschichten der SPÖ gelingen wird. Denn in keinem anderen Bundesland sind die Reihen der Sozialisten so dicht geschlossen wie in Wien. Die einzige, aber ungeheuer große Chance der ÖVP besteht darin, in die Kernschichten der Nichtwähler-Partei einzudringen, einen Teil der wahlmüden Wiener zu Busek-Wählern zu machen.

Wenn Busek bei den Wahlen drei Mandate gewinnt und damit Vizebürgermeister wird, muß sich für Wien und die Wiener noch nichts Wesentliches ändern. Aber mit der Parole „Der Rathausmann ist kein Sozialist“ und mit dem Anspruch, später einmal seine Partei zur Mehrheitspartei in Wien zu machen, hat er für Bewegung und Stimmung gesorgt. Lange genug haben in Wien Kleinmut und Lethargie bei der ÖVP, Selbstherrlichkeit und bürokratische Immobilität bei der SPÖ die politische Szene geprägt.

Eine gesunde und faire politische Auseinandersetzung hat jetzt wieder Chancen. \

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