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Wenn Eiferer laut nachdenken

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Fast genau auf den Tag, als vor 40 Jahren Panzerspitzen der Roten Armee auf Oberschlesien zustießen und damit der Leidensweg von Millionen deutschen Flüchtlingen begann, erreichten die Debatten um die sogenannten „deutschen Ostgebiete” neue Höhepunkte.

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Fast genau auf den Tag, als vor 40 Jahren Panzerspitzen der Roten Armee auf Oberschlesien zustießen und damit der Leidensweg von Millionen deutschen Flüchtlingen begann, erreichten die Debatten um die sogenannten „deutschen Ostgebiete” neue Höhepunkte.

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Angefangen hat es damit, daß vor einiger Zeit Bundeskanzler Helmut Kohl seinem Parteifreund Herbert Hupka, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der schlesischen Landsmannschaft, zugesagt hatte, beim im Juni stattfindenden Schlesier-Treffen zu sprechen. Als sich jedoch die Landsmannschaft als Motto ihres Treffens den Spruch „Schlesien bleibt unser” erwählte, kam es zu einer Neuauflage der Revanchismus-Kampagne der Sowjetunion und ihrer Verbündeten.

Auf sanften Druck der christlich-liberalen Koalition hin, die bemüht war, außenpolitischen Schaden gerade angesichts der anstehenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation hintanzuhalten, änderten die Schlesier ihr Motto: „Schlesien bleibt unsere Zukunft im Europa freier Völker”, was Außenminister Hans Dietrich Genscher zur Bemerkung „Verschlimmbesserung” veranlaßte.

Kaum hatten sich die außen-und innenpolitischen Wogen diesbezüglich langsam geglättet, kam es am 25. Jänner zu einem neuen Eklat. An diesem Tag erschien die neueste Ausgabe der Zeitung ,J3er Schlesier” (Organ der Landsmannschaft). In ihr war ein Artikel eines 20jährigen Schlesier-Funktionärs und CDU-Mitglieds namens Thomas Finke abgedruckt, der das Szenario eines Einmarsches der deutschen Bundeswehr in Ost-Mitteleuropa entwarf.

Danach sind die Streitkräfte der deutschen Bundeswehr ohne nennenswerten Widerstand bis an die russisch-polnische Grenze vorgestoßen, weil die Sowjetunion durch einen Konflikt mit China gebunden war. Die Bevölkerung feierte die vorrückenden Deutschen als Befreier, die Neuordnung Europas konnte vorgenommen werden.

„So oder ähnlich könnte sich die Wiedervereinigung Deutschlands vollziehen”, schrieb der Autor, wobei er darunter auch den Anschluß Österreichs versteht: „Österreich schloß sich freiwillig der Bundesrepublik an, die Bundesrepublik Deutschland erhielt die volle Souveränität.” Die mühsam geglättete Schlesier-Diskus-sion brach nun national wie international wieder auf.

Nachdem die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel Anfang der siebziger Jahre mit verschiedenen Staaten des Warschauer Paktes Verträge abschloß (sogenannte „Ostverträge”), konnte man glauben, daß die „Gespensterdiskussionen” von Vertriebe-nenpolitikern doch der Vergangenheit angehören. In diesen „Ostverträgen” hatte die Bundesrepublik Deutschland insbesondere Polen die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa in Gegenwart und Zukunft zugesichert.

Der Vorbehalt bezüglich eines künftigen gesamtdeutschen Friedensvertrages hatte dabei nur völkerrechtlichen und theoretischen Wert, wohl wissend, daß ein solcher gesamtdeutscher Friedensvertrag, sofern er einmal überhaupt kommen sollte, doch an der Oder-Neisse-Grenze keinen Millimeter rütteln wird.

Durch die Übernahme der deutschen Regierungsverantwortung seitens der Union glaubten die Vertriebenenorganisationen wieder Aufwind zu bekommen, ist doch nicht nur der Schlesier-Funktionär Herbert Hupka (übrigens in Ceylon geboren), sondern auch der Präsident des Dachverbandes aller Vertriebenenorganisationen Herbert Czaja CDU-Bundestagsabgeordneter.

Parteipolitisch ist auch die überwiegende Mehrzahl der Vertriebenen der Union zuzuordnen, sodaß Helmut Kohl in doppelte Bedrängnis kam: Auf der einen Seite die Versicherung der Regierung Kohl, die internationalen Verträge (auch die Ostverträge) zu halten sowie seine Sorge um die außenpolitische Reputation, auf der anderen Seite die Gefahr einer innerparteilichen Kollision mit Vertriebenenfunktionären mit möglicher Aufkündigung der Wahlgefolgschaft.

Die Folge davon war ein rhetorischer Eiertanz, den nur völkerrechtlich Versierte durchschauen konnten: Die Unverletzlichkeit der Grenzen Europas in Gegenwart und Zukunft wird — gebunden durch die „Ostverträge” und die Akte von Helsinki - betont, gleichzeitig augenzwinkernd hinzugefügt, daß ja letztendlich über die endgültige geographische Gestalt Deutschlands nur ein Friedensvertrag befinden könne.

Diese politische Doppelzüngigkeit hat nun ihre Frucht in dem besagten Artikel eines 20jährigen Eiferers geerntet. In politischer Unverfrorenheit hat er nur „laut nachgedacht”, wie dieser Widerspruch zu lösen sei. Die Verantwortung für diese Entgleisung haben - abgesehen der verantwortliche Redakteur dieser Zeitung -all jene Politiker, die durch allzu weites „Offenlassen der deutschen Frage” den Nährboden für eine solche Gedankenspielerei gelegt haben.

Dabei werden die positiven Leistungen der Vertriebenenorgani-sation für die Integration leicht vergessen: Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen auf internationaler Ebene (man denke an die Palästinenser) geschah die Integration der Vertriebenen in der Bundesrepublik und Österreich ohne nennenswerte politische, soziale, wirtschaftliche Probleme.

Aber noch ein anderes ist zu bedenken: Wiederum wurde — sicherlich gedankenlos — Österreich in eine gesamtdeutsche Lösung miteinbezogen. Die FURCHE hat schon mehrmals auf diese Tendenzen in der Bundesrepublik hingewiesen (siehe Nr. 35 und 39/84), die sicherlich nicht aus einem bösartigen Motiv kommen. Es wäre aber langsam an der Zeit, wenn die österreichische Bundesregierung diese Tendenzen stärker beobachtet und in ihre Uber-legungen miteinbezieht, um sich in dieser heiklen und historisch belasteten politischen Frage nicht den Vorwurf der Untätigkeit einzuhandeln.

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