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Wenn Einzelstimmen eine Wahl entscheiden

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Was am Wahlabend als äußerst spannendes Kopf-an-Kopf- Rennen begonnen hatte, endete als Farce: Wer die norwegischen Wahlen wirklich gewonnen hat, wird erst entschieden sein, wenn das Storting am 3. Oktober erstmals wieder Zusammentritt.

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Was am Wahlabend als äußerst spannendes Kopf-an-Kopf- Rennen begonnen hatte, endete als Farce: Wer die norwegischen Wahlen wirklich gewonnen hat, wird erst entschieden sein, wenn das Storting am 3. Oktober erstmals wieder Zusammentritt.

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In der Wahlnacht hatte es so ausgesehen, als könnte Odvar Nordlis sozialdemokratische Regierung mit Unterstützung der „Sozialistischen Linkspartei“ im Amt bleiben. Man rechnete mit 77 Mandaten für die siegreiche Arbeiterpartei und einem einzigen, entscheidenden für die Linkspartei. Ihnen standen 77 Abgeordnete von vier bürgerlichen Fraktionen gegenüber. Achtzehn Stunden nach Schließung der Wahllokale, als endlich das erste „endgültige“ Resultat vorlag, hatte sich die Waagschale auf die Seite der Bürgerlichen gesenkt: Mit 386 Stimmen Vorsprung hatte im letzten auszuzählenden Wahlkreis die „Christliche Volkspartei“ der „Arbeiterpartei“ ein Mandat abgeknöpft. Nun hatten plötzlich die Bürgerlichen jenen 78 : 77 Vorsprung, der ihnen die Re- gi'erungsverantwortung für die nächsten vier Jahre zu sichern schien.

Doch das „Bürgerkabinett“ fiel schon 28 Stunden später. Bei der Stimmüberprüfung stellte sich heraus, daß in einem Wahlsprengel ein Kuvert mit 50 Stimmen für die „Linkspartei“ versehentlich unter jene der Sozialdemokraten geraten war. Die Schlamperei der Wahlbehörde kostete die bürgerliche Koalition wieder die Mehrheit Denn diese 50 Stimmen reichten aus, um ein Mandat von der konservativen „Höyre“ zur Sozialistischen Linkspartei wandern zu lassen. Der neue Stand: 78 : 77, jetzt wieder für die sozialistischen Parteien. Die Nachricht erreichte die bürgerlichen Parteiführer just in dem Augenblick, als sie sich zusammensetzten, um das gemeinsame Regierungsprogramm abzusprechen…

Dennoch: Der letzte Akt der Komödie folgt möglicherweise noch. In Hordaland ist das letzte Mandat der „Arbeiterpartei“ nur mit 69 Stimmen abgesichert. Niemand kann wissen, wo sich sonst noch Kuverts mit Stimmen an falschen Plätzen befinden, und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Bei den letzten Wahlen waren 86 Stimmen ausschlaggebend gewesen, daß die Sozialisten die Macht eroberten. Norwegens Storting wird vom Zufall zusammengesetzt!

Die Dramatik der Entscheidung überschattet die äußerst interessanten Resultate, die die Wahl gebracht hat Norwegen ist auf dem Weg vom Vielparteienstaat zu einer Polarisierung „Arbeiterpartei“ - „Höyre“. Die Sozialdemokraten und die Konservativen waren mit Gewinnen von 14 und 12 Mandaten die großen Sieger der Auseinandersetzung. Bezeichnend aber auch, daß beide ihren Zuwachs aus dem eigenen Lager holten. Denn am Mandatsverhältnis hat sich insgesamt nichts geändert. Die „Arbeiterpartei“ holte sich all die Stimmen zurück, die sie beim letzten Wahlgang an die „Sozialistische Linkspartei“ verloren hat te. Die Linkssozialisten fielen von 16 auf zwei Mandate, trotzdem nehmen sie mit diesen beiden eine Schlüsselposition ein: Ohne sie kann Odvar Nordli, der populäre Staatsminister, nicht regieren. Berge Furre, der Vorsitzende der Linkspartei, sagte schon in der Wahtnacht: „Es ist nicht entscheidend, wie viele meiner Leute im Storting sitzen, Einfluß müssen sie haben.“ Eine bürgerliche Mehrheit hätte die Linkssozialisten völlig ihres Einflusses beraubt. Jetzt haben sie ihn wieder.

Im bürgerlichen Lager war Erling Norvik, der junge, dynamische Chef der Konservativen, strahlender Sieger. Die „Christliche Volkspartei“ hielt ihre Position, die „Zentrumspartei“ dagegen verlor 10 ihrer 22 Sitze. Damit ist eingetreten, was die „Zentrumspartei“ unter allen Umständen verhindern wollte: Die Konservativen sind allein stärker geworden als alle anderen bürgerlichen Parteien miteinander. Das war Wasser auf die Mühlen der innerparteilichen Opposition, die sich immer dagegen gewehrt hatte, das bäuerliche „Zentrum“ allzu eng an die entwicklungsdynamische „Höyre“ zu binden. Hätten die Bürgerlichen die Mehrheit gewonnen, hätte die „Zentrumspartei“ ohne Zweifel an der gemeinsamen Regierung teilgenommen. Nun ist deren Niederlage eine Belastung für die junge bürgerliche Eintracht. Ob sich die drei großen nichtsozialistischen Fraktionen nochmals auf eine gemeinsame Strategie und ein gemeinsames Programm einigen werden können, ist eine der entscheidenden Fragen für Norwegens Zukunft

Die kleine liberale „Venstre“ stand in der Dramatik der Wahlentscheidung in einer ähnlichen Position wie die Linkssozialisten. Ihre beiden Mandate schienen den Bürgerlichen in den Sattel zu helfen und damit der „Venstre“ größeren Einfluß zu gewähren, als es ihr zustehen würde. Jetzt sind sie wieder nur eine Minifraktion. Wenn sich das Resultat nicht nochmals ändert …

Bis zum 3. Oktober haben die Wahlüberprüfer Zeit Norwegens Regierung zu bestätigen oder nochmals umzustoßen. Die Möglichkeit auf Grund der ungeklärten Lage einfach Neuwahlen anzusetzen, besteht nicht. Nach Norwegens Verfassung darf nur alle vier Jahre einmal gewählt werden. Regierungen dürfen zurücktreten, aber die Zusammensetzung des Stortings wird nicht geändert Wer auch immer schließlich die. Mehrheit zugesprochen erhalten wird, er muß sich «bewußt sein, gegen die Hälfte des norwegischen Volkes zu regieren.

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