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Wenn er den Krieg gewonnen hätte

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Dieses aufregende Buch ist erstmals 1939 erschienen und hat, mit der fast gleichzeitig herausgekommenen französischen Ausgabe, großes Aufsehen gemacht. Aber das Aufsehen war nicht groß genug, die Welt zu warnen. Vielleicht war es auch schon zu spät — wie so oft in der Leidensgeschichte der Menschheit. Denn hier, in diesen Gesprächen mit Hitler, enthüllt sich dieser wie nie vorher, und auch spätere Kommentare und Analysen seiner kranken Persönlichkeit, seines gefährlichen Charakters, seines Größenwahns und seines Vernichtungswillens konnten diese Aufzeichnungen Hermann Rauschnings nicht übertreffen, sondern nur bestätigen oder ergänzen.

Zur Person des Autors: Rauschning hatte Volkswirtschaft studiert und war Gutsbesitzer in Ostpreußen. Er gehörte öiner Schicht an, die mehr mit den Deutschnationalen als mit den Nationalsozialisten sympathisierte und die von einer „konservativen Revolution“ träumte. Doch als dann die NSDAP Aufwind bekam, stellte sich auch Rauschning in den Dienst der Bewegung und wurde zum Senatspräsidenten der 1918 von Deutschland abgetrennten, später internationalisierten „Freien Stadt Danzig“ ernannt. In dieser Eigenschaft hatte er, oft unter vier Augen, manchmal in Begleitung des Gauleiters Forster, Gelegenheit zu ausgedehnten Gesprächen mit Hitler.

Rauschning mag Hitler 1932 Im Braunen Haus in München zum ersten Mal getroffen haben, dann folgten in den Jahren 1933 und 1934 zahlreiche Zusammenkünfte in Haus Wachenfeld auf dem Obersalzberg. Rauschning wurde es bald unheimlich, er wandte sioh von der NSDAP und von Deutschland ab, emigrierte zunächst in die Schweiz und später nach Amerika. Immerhin konnte sein Buch in der Schweiz erscheinen, und nur ein Kapitel, das 18. mit dem Titel „Hitler privat“, wurde von der Schweizer Armeezensurbehörde gestrichen.

Wie erscheint nun Hitler im Spiegel dieser genauen, mit schriftstellerischer Brillanz zu Papier gebrachten Aufzeichnungen? Zunächst: als ein kalter, listiger und skrupelloser Plänemacher mit ausschweifender Phantasie. Meist von realen Gegebenheiten ausgehend, wie sie auch ein Gelegenheitsdieb ausnützt, gerät er in hemmungslosen Monologen in traumatisches Wunschdenken. Mit Rauschning, den er für einen Fachmann hielt und vor dem er brillieren wollte, erging er sich vor allem in geopolitischen Phantastereien*-

Hitlers Weltbild ist — infolge mangelnder Erfahrung und Anschauung — merkwürdig verschroben: Nordamerika, moralisch bankrott, befindet sich am Vortag einer Revolution; Südamerika, besonders Brasilien, wartet nur darauf, von Deutschland kolonialisiert zu werden. Seine Weltherrschaft will Hitler durch Kriege und in Etappen verwirklichen. Da ist zunächst ein Block der 100 Millionen: Deutschland, Böhmen und Mähren, Schweden und Norwegen, Holland und Flandern einschließlich der zu annektierenden baltischen Staaten. Der verachtete Osten muß zunächst entvölkert und dann germanisiert werden. Nun reicht das Reich bis zur französischen Westküste und im Osten bis zum Kaukasus, bzw. dem Iran. Allmählich erfolgt, statt einer horizontalen eine vertikale Gliederung der von Germanen beherrschten Welt: es gibt eine hieratisch gegliederte Herrenschichte aus Parteimitgliedern, der sogenannte Blutadel, eine breite fügsame Mittelklasse und — im Status von Sklaven: die Fremdstämmigen. Das Christentum soll mit Stumpf und Stiel ausgerottet und durch eine Staatsreligion ersetzt werden. Sie wird vor allem auf den Ordensburgein gelehrt und praktiziert — eine spezielle Idee Rosenbergs, der die Partei als Massenbewegung abschaffen wollte.

Den Gauleitern und Statthaltern sowie den höheren Parteifunktionären ist nahezu alles erlaubt, soweit sie absolut zuverlässig sind, auch per-

sönliche Bereicherung. Äußere Manifestation der neuen Supermacht ist vor allem die Architektur: heilige Bauten, Wahrzeichen der neuen Hochkultur, an den Monumenten Ägyptens und Babylons orientiert. (Einige Exempel wurden ja realisiert.) Um Hitler herum — der selbst aus der Tradition herausgefallen ist und an allerlei Geistessurrogaten nascht: brutale Opportunisten, Dummköpfe der ersten Stunde, allerlei verwachsene Sehnsüchtige, Vegetarier, Theosophen, Lebensreformer: verkümmerte und verwaschene Romantik, bis hinab zu den vielen meist schon „reiferen“ Frauen mit einem Stich ins Hysterische, von den Parteigenossen als Hitlers „Krampfader-Geschwader“ bezeichnet.

Unheimliches, Gigantomanisches also neben Kleinkarriertem und Lächerlichem. Unausdenkbar in seinen Konsequenzen im nachatomaren Zeitalter, beim heutigen Stand der Biochemie und mit den Möglichkeiten interplanetarischer Kommunikation, wenn er zur „Weltmacht“ gekommen wäre: apokalyptische Phan-

tasten. Daher ist dem Europa-Verlag für eine Neuauflage gerade dieses Hitler-Buches sehr zu danken.

GESPRÄCHE MIT HITLER. Von Hermann Rauschning, Europa-Verlag. 280 Seiten. Preis 168 Schilling.

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